In den seichten Küstengewässern entlang der nordamerikanischen Atlantikküste lebt ein kleines, unscheinbares Wesen, das die Grenzen zwischen Tier- und Pflanzenwelt verschwimmen lässt: die Meeresschnecke Elysia chlorotica. Mit ihrer Fähigkeit, Sonnenlicht zur Energiegewinnung zu nutzen, stellt sie eine biologische Kuriosität dar, die Wissenschaftler seit Jahrzehnten fasziniert. Doch wie gelingt es diesem Tier, eine Eigenschaft zu übernehmen, die sonst nur Pflanzen vorbehalten ist?
Die außergewöhnliche Fähigkeit zur Photosynthese
Elysia chlorotica gehört zur Gruppe der Schlundsackschnecken (Sacoglossa), die für ihre einzigartige Ernährungsweise bekannt sind. Diese Meeresschnecke ernährt sich bevorzugt von der Alge Vaucheria litorea. Dabei sticht sie mit ihrer Radula, einer zungenartigen Struktur, in die Zellwände der Alge und saugt deren Inhalt aus. Anstatt die aufgenommenen Chloroplasten – die Zellorganellen, die für die Photosynthese verantwortlich sind – zu verdauen, integriert die Schnecke diese in die Zellen ihres Verdauungstrakts. Dieser Prozess, bekannt als Kleptoplastie, ermöglicht es der Schnecke, die Chloroplasten über Monate hinweg funktionsfähig zu halten und selbst Photosynthese zu betreiben. So kann Elysia chlorotica in Zeiten knapper Nahrungsressourcen allein durch Sonnenlicht überleben (Rumpho et al., 2008).
Die Heimat von Elysia chlorotica erstreckt sich entlang der Ostküste Nordamerikas, von Nova Scotia in Kanada bis nach Florida in den USA. Bevorzugt besiedelt sie flache, brackige Gewässer wie Salzmarschen, Gezeitentümpel und seichte Küstenbereiche. Diese Lebensräume bieten nicht nur reichlich Nahrung in Form von Algen, sondern auch ausreichend Sonnenlicht für die photosynthetische Aktivität der Schnecke (Green et al., 2000).
Mit einer Länge von bis zu 60 Millimetern präsentiert sich Elysia chlorotica in einem leuchtenden Grün, das sie von den eingelagerten Chloroplasten erhält. Diese grüne Färbung dient nicht nur der Tarnung vor Fressfeinden, sondern ist auch ein sichtbares Zeichen ihrer einzigartigen Lebensweise. Der blattförmige Körper und die seitlichen Ausstülpungen, die sogenannten Parapodien, verleihen der Schnecke ein pflanzenähnliches Aussehen, das sie harmonisch in ihre Umgebung einfügt (West et al., 2005).
Wissenschaftliche Untersuchungen und Debatten
Die Fähigkeit von Elysia chlorotica, Chloroplasten zu nutzen, hat in der Wissenschaft großes Interesse geweckt. Ursprünglich wurde vermutet, dass die Schnecke Gene der Alge in ihr eigenes Erbgut integriert hat, um die Funktion der Chloroplasten aufrechtzuerhalten. Studien konnten jedoch keine Hinweise auf einen solchen horizontalen Gentransfer finden. Die genaue Mechanik, wie die Schnecke die Chloroplasten so lange funktionsfähig hält, ist weiterhin Gegenstand der Forschung (Pierce et al., 2007).
Die Fähigkeit zur Photosynthese verschafft Elysia chlorotica einen erheblichen Überlebensvorteil. In Zeiten, in denen Nahrung knapp ist, kann sie ihren Energiebedarf durch Sonnenlicht decken und so längere Hungerperioden überstehen. Diese Anpassung ermöglicht es der Schnecke, in verschiedenen Habitaten zu überleben und sich an wechselnde Umweltbedingungen anzupassen (Christa et al., 2014).
Elysia chlorotica ist ein beeindruckendes Beispiel für die Kreativität der Natur. Ihre Fähigkeit, pflanzliche Eigenschaften zu übernehmen und Photosynthese zu betreiben, stellt die klassischen Definitionen von Tier und Pflanze infrage und eröffnet neue Perspektiven für das Verständnis von Symbiosen und Energiegewinnung in der Tierwelt.
Quellen
- Christa, G., Pütz, L., Südkamp, D., et al. (2014) ‘The capacity for photosynthesis in animals: a case study with the mollusc Elysia timida’, Frontiers in Zoology, 11(5). Available at: https://frontiersinzoology.biomedcentral.com/articles/10.1186/1742-9994-11-5 (Accessed: 5 February 2025).
- Green, B.J., Fox, T.C. and Pierce, S.K. (2000) ‘Photosynthetic properties of the chloroplast symbiosis in the sacoglossan Elysia chlorotica’, Symbiosis, 29(3), pp. 293-307.
- Pierce, S.K., Curtis, N.E. and Middlebrooks, M.L. (2007) ‘Acquisition of algal nuclear genes by the sea slug Elysia chlorotica’, The Biological Bulletin, 213(2), pp. 126-134. Available at: https://www.biolbull.org/content/213/2/126.short (Accessed: 5 February 2025).
- Rumpho, M.E., Summer, E.J. and Manhart, J.R. (2008) ‘Solar-powered sea slugs: Mollusc/algal chloroplast symbiosis’, Plant Physiology, 148(2), pp. 570-579. Available at: https://www.plantphysiol.org/content/148/2/570 (Accessed: 5 February 2025).
- West, H.H., Harrigan, J. and Pierce, S.K. (2005) ‘Molecular studies on the retention of functional chloroplasts by the sea slug Elysia chlorotica’, Marine Biology, 147(6), pp. 1437-1445.
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