Mit Schilf gegen Altlasten: Wie Europas größte Pflanzenkläranlage Umweltprobleme löst

Historische Altlasten und moderne Lösungen

Auf dem Gelände der ehemaligen Sprengstofffabrik „Werk Tanne“ in Clausthal-Zellerfeld hat die Natur ihren Platz zurückerobert – und das in einer unerwarteten Form. Europas größte Pflanzenkläranlage wurde hier eingerichtet, um mit Hilfe von Schilfpflanzen sprengstofftypische Schadstoffe aus dem Grundwasser zu entfernen. Eine ökologische Technologie trifft auf historische Altlasten: Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie moderne Umwelttechnik und die Kräfte der Natur zusammenwirken können, um eine jahrzehntelange Umweltkatastrophe einzudämmen.

Der Schadstoffkreislauf: Eine toxische Erbschaft

Das „Werk Tanne“, eine der größten Sprengstofffabriken des Dritten Reichs, produzierte zwischen 1935 und 1944 massive Mengen Trinitrotoluol (TNT). Die Herstellung dieses Sprengstoffs setzte jedoch toxische Nebenprodukte frei, darunter Nitrotoluole und andere stickstoffhaltige Verbindungen, die das Grundwasser und den Boden nachhaltig belasteten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gelände weitgehend sich selbst überlassen, wodurch sich die Schadstoffe über Jahrzehnte in tieferen Bodenschichten und im Wasser ausbreiteten. Bis heute gelten die Rückstände als gesundheitsgefährdend und ökologisch problematisch.

Herausforderung: Reinigung hochbelasteter Flächen

Das kontaminierte Wasser des Werksgeländes kann nicht einfach in natürliche Gewässer abgeleitet werden, da die chemischen Verbindungen wasserlöslich und biologisch schwer abbaubar sind. Konventionelle Kläranlagen stoßen bei solchen Schadstoffen an ihre Grenzen, weshalb innovative Ansätze gefragt waren. Hier kommt die Pflanzenkläranlage ins Spiel, die auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten von Schilfpflanzen setzt.

Schilfpflanzen: Die grünen Ingenieure der Natur

Schilf (Phragmites australis) ist mehr als nur eine typische Pflanze in Feuchtgebieten. Diese robusten Pflanzen haben Eigenschaften, die sie perfekt für die Wasserreinigung machen:

  • Schnelles Wachstum und hohe Biomasseproduktion: Schilf wächst extrem schnell und bildet dichte Bestände. Dadurch kann eine große Menge Wasser in kurzer Zeit gereinigt werden.
  • Tiefe Wurzelsysteme: Die Wurzeln reichen oft über einen Meter in den Boden. Sie schaffen ein Mikroklima, in dem spezielle Bakterien gedeihen, die Schadstoffe zersetzen können.
  • Nährstoffaufnahme: Die Pflanzen nehmen Stickstoff- und Phosphorverbindungen auf, die oft in Abwässern enthalten sind. Auch organische Verbindungen, wie sie bei der TNT-Produktion entstehen, können so reduziert werden.
  • Sekundärreinigung durch Mikroorganismen: Die im Wurzelbereich lebenden Mikroorganismen (das sogenannte Rhizosphären-Mikrobiom) spielen eine entscheidende Rolle. Sie wandeln schwer abbaubare Chemikalien in weniger schädliche Substanzen um, teilweise bis hin zur vollständigen Zersetzung.

Durch diese Kombination aus physikalischen, chemischen und biologischen Prozessen wird das kontaminierte Wasser auf eine Qualität gebracht, die den gesetzlichen Anforderungen entspricht.

Der Reinigungsprozess in der Pflanzenkläranlage

Die Pflanzenkläranlage in Clausthal-Zellerfeld besteht aus mehreren Becken, die jeweils eine spezifische Aufgabe erfüllen:

  1. Vorreinigung im Sammelbecken: Belastetes Wasser – meist aus Regen oder Schmelzwasser, das durch die kontaminierten Böden gesickert ist – wird zunächst in ein Sammelbecken geleitet. Hier setzt sich grobes Sediment ab, und erste Schadstoffe werden durch Sonnenlicht photolytisch zersetzt.
  2. Reinigung durch Schilfbecken: Das vorgereinigte Wasser fließt in ein System aus Schilfpflanzenbecken. Die Pflanzen dienen als „Filterstation“, indem sie organische Schadstoffe, darunter TNT-Rückstände, aufnehmen und durch ihr Wurzelsystem weiterleiten. Im Bereich der Wurzeln zersetzen Mikroorganismen die chemischen Verbindungen. Dabei werden hochkomplexe Verbindungen, wie Nitrotoluole, schrittweise abgebaut.
  3. Nachsickerung und Speicherung: Nach der Behandlung durch die Schilfpflanzen wird das Wasser in Nachsickerbecken geleitet. Diese dienen der weiteren Klärung und als Pufferzone, bevor das gereinigte Wasser in natürliche Fließgewässer abgeleitet wird.

Der gesamte Prozess nutzt also die Synergie aus physikalischen Filtrationsmechanismen, biologischem Abbau und chemischen Reaktionen. Die Effizienz dieser Methode hat sich in mehreren Projekten weltweit bewährt.

Nachhaltige Reinigung mit Vorbildcharakter

Die Pflanzenkläranlage in Clausthal-Zellerfeld gilt als größte ihrer Art in Europa und ist ein Meilenstein in der Sanierung belasteter Industrieflächen. Doch die Technik ist keineswegs neu. Ähnliche Ansätze werden weltweit verwendet:

  • In Dänemark und den Niederlanden sind Schilfpflanzen seit Jahrzehnten fester Bestandteil kommunaler Klärsysteme.
  • In Australien werden Pflanzenkläranlagen erfolgreich eingesetzt, um Abwässer aus der Bergbauindustrie zu reinigen.
  • Im Oman filtert eine Schilfanlage Abwässer aus der Erdölgewinnung – ein Paradebeispiel für die globale Anwendbarkeit dieser Methode.

Die Anlage in Clausthal-Zellerfeld ist jedoch einzigartig, da sie auf eine extreme Schadstoffbelastung spezialisiert ist. Die Kombination aus technischer Planung und natürlicher Reinigungskraft macht sie zu einem Leuchtturmprojekt für die Umwelttechnologie.

Ein Gemeinschaftsprojekt mit Erfolg

Die Umsetzung dieser Anlage war ein Gemeinschaftswerk verschiedener Akteure. Die Initiative geht auf das niedersächsische Umweltministerium zurück, das in Zusammenarbeit mit regionalen Behörden und Fachunternehmen die Finanzierung und Umsetzung sicherstellte. Der Bau begann 2020 mit ersten Testbecken, und die vollständige Anlage wurde 2024 in Betrieb genommen. Mit einer Fläche von mehreren Hektar ist sie die größte Pflanzenkläranlage Europas.

Die Entscheidung, auf Schilfpflanzen zu setzen, war nicht nur ökologisch, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll. Im Vergleich zu herkömmlichen chemischen Reinigungsmethoden ist die Pflanzenkläranlage wesentlich kostengünstiger im Betrieb und hat einen geringeren Energieverbrauch.

Ausblick: Langfristige Sanierung mit Hoffnung

Die Sanierung des „Werk Tanne“ wird noch Jahrzehnte dauern, aber die Pflanzenkläranlage hat einen entscheidenden Schritt markiert. Durch diese nachhaltige Technologie wird nicht nur die Umwelt entlastet, sondern auch ein wichtiger Beitrag zur Revitalisierung der Region geleistet. Schilfpflanzen, oft unterschätzt, erweisen sich als stille Helden im Kampf gegen die Altlasten des Zweiten Weltkriegs.

Quellenangaben

  1. Goslarsche Zeitung. (2024). Clausthaler Werk Tanne: Mit Schilf gegen Sprengstoffreste. Verfügbar unter: https://www.goslarsche.de/lokales/werk-tanne-pflanzenklaeranlage-clausthal-zellerfeld-sanierung-614452.html
  2. EUWID Wasser und Abwasser. (2024). Europas größte Pflanzenkläranlage auf Gelände einer ehemaligen Sprengstofffabrik in Betrieb. Verfügbar unter: https://www.euwid-wasser.de/news/wirtschaft/europas-groesste-pflanzenklaeranlage-auf-gelaende-einer-ehemaligen-sprengstofffabrik-in-betrieb-041124/
  3. OM Online. (2024). Ehemalige NS-Munitionsfabrik: Größte Pflanzenkläranlage für giftige Chemikalien in Niedersachsen eröffnet. Verfügbar unter: https://www.om-online.de/wirtschaft/ehemalige-ns-munitionsfabrik-groesste-pflanzenklaeranlage-fuer-giftige-chemikalien-in-niedersachsen-eroeffnet-621449
  4. ZfK – Zeitung für kommunale Wirtschaft. (2023). Wie Pflanzenkläranlagen Abwasser filtern. Verfügbar unter: https://www.zfk.de/wasser-abwasser/abwasser/wie-pflanzenklaeranlagen-abwasser-filtern

 

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