Ein sterbendes Dorfzentrum
Forchtenberg, eine beschauliche Kleinstadt im Hohenlohekreis in Baden-Württemberg, steht exemplarisch für ein Problem, das viele ländliche Gemeinden in Deutschland betrifft: der schleichende Verlust von Infrastruktur. Vor vier Jahren schloss im Stadtteil Sindringen, einem Ortsteil mit rund 930 Einwohnern, der letzte Dorfladen seine Türen. Bereits zuvor hatten Post, Sparkasse und Metzgerei aufgegeben. Die nächste Einkaufsmöglichkeit für Lebensmittel? Ganze 16 Kilometer entfernt. Für ältere Menschen ohne Auto oder Personen mit eingeschränkter Mobilität bedeutete dies ein massives Problem: Wie sollten sie ihren täglichen Bedarf decken, ohne auf die Hilfe Dritter angewiesen zu sein?
Das Phänomen ist kein Einzelfall. Laut einer Studie des Thünen-Instituts (2020) hat ein Viertel aller Gemeinden in ländlichen Regionen keinen Zugang zu einem Supermarkt oder einem vergleichbaren Versorgungsangebot im Umkreis von fünf Kilometern. Die Folge: sozialer Rückzug, Abwanderung und ein wachsendes Gefühl der Perspektivlosigkeit. Doch während viele Orte das Problem resigniert hinnehmen, fand Landwirt Stefan Hartmann eine überraschende Lösung.
Die Idee eines vollautomatischen Dorfladens
Stefan Hartmann, ein pragmatischer Landwirt aus Sindringen, erkannte die Dringlichkeit der Situation. „Man kann doch die älteren Leute nicht einfach sich selbst überlassen“, sagte er bei der Vorstellung seines Projekts. Seine Idee: Ein Dorfladen ohne Personal, der ausschließlich über Automaten betrieben wird. Was zunächst wie eine Notlösung klang, entpuppte sich als innovative Antwort auf das Infrastrukturproblem.
Hartmann investierte in gebrauchte Verkaufsautomaten, die zuvor auf einer Fähre im Einsatz waren. Mit technischer Unterstützung passte er die Geräte an die Bedürfnisse der Dorfbewohner an. Auf einer Fläche von knapp 30 Quadratmetern entstand ein kompakter Laden, der über 230 Artikel führt – von frischem Obst bis zur Zahnpasta. Selbst Nischenprodukte wie fünf Sorten Kondome sind Teil des Sortiments, ein unerwartet gefragter Artikel in der Gemeinde.
Die Rechtsform des Projekts ist bewusst schlank gehalten: Hartmann führt den Laden als Einzelunternehmer. Mit Unterstützung seiner Familie und technischer Expertise aus der Region gelang es ihm, das Geschäft innerhalb weniger Monate auf die Beine zu stellen. Die Initialkosten waren überschaubar, da die Automaten gebraucht gekauft wurden, und auch die Betriebskosten sind dank der Automatisierung niedrig.
Herausforderungen des automatisierten Einkaufens
Natürlich lief nicht alles reibungslos. Die Automaten sind anfällig für technische Störungen, und insbesondere ältere Menschen tun sich manchmal schwer mit der Bedienung. Doch Hartmann bleibt optimistisch: „Es ist eine Umstellung, klar. Aber es funktioniert. Und die Leute schätzen, dass sie wieder vor Ort einkaufen können.“
Ein weiteres Problem ist die Rentabilität. Der Laden erwirtschaftet momentan lediglich einen Stundenlohn von 30 bis 40 Cent. Wirtschaftlich gesehen wäre es nicht möglich, Angestellte zu beschäftigen. Doch Hartmann sieht das Projekt nicht primär als Einnahmequelle, sondern als Beitrag zum sozialen Leben im Dorf. „Manchmal muss man nicht auf den Gewinn schauen, sondern auf den Nutzen für die Gemeinschaft“, sagt er.
Die Resonanz aus der Bevölkerung ist überwiegend positiv. Ein älterer Dorfbewohner erzählt: „Früher musste ich meine Enkel fragen, ob sie mir etwas mitbringen können. Jetzt gehe ich einfach selbst in den Laden, auch wenn ich manchmal etwas länger brauche, bis ich alles finde.“ Für viele ist der Laden mehr als nur eine Einkaufsmöglichkeit – er ist ein Stück zurückgewonnene Eigenständigkeit.
Inspiration aus anderen Regionen
Das Konzept des vollautomatischen Dorfladens ist in Deutschland noch relativ neu, aber nicht einzigartig. In Bayern hat beispielsweise der „Tante Emma 24/7“-Laden in Oberammergau ähnliche Erfolge gefeiert. Hier wurde ein Containerladen mit Selbstbedienungsautomaten aufgestellt, der sich dank eines ergänzenden Angebots an regionalen Produkten großer Beliebtheit erfreut. Die Betreiber berichten von Umsätzen, die inzwischen ausreichend sind, um das Modell langfristig zu finanzieren.
Ein weiteres Vorbild ist das niederländische Konzept „Spar Express“, das auf unbemannte Mini-Supermärkte in ländlichen Gebieten setzt. Dort wird zusätzlich auf digitale Lösungen wie Apps und bargeldlose Bezahlung gesetzt, um die Benutzerfreundlichkeit zu erhöhen.
Hartmann sieht solche Projekte als Inspiration, auch wenn er die Dinge lieber bodenständig angeht. „Natürlich könnte man noch mehr digitalisieren, aber unser Fokus liegt darauf, dass es für alle leicht nutzbar bleibt – gerade für die älteren Leute.“
Zukunftsaussichten: Potenzial für Wachstum?
Obwohl der vollautomatische Dorfladen in Sindringen bereits ein Erfolg in sozialer Hinsicht ist, bleibt die wirtschaftliche Tragfähigkeit ein Knackpunkt. Hartmann denkt über Möglichkeiten nach, das Sortiment auszuweiten und den Laden stärker mit lokalen Erzeugern zu vernetzen. „Warum nicht frische Eier oder Marmelade von den Bauern aus der Umgebung anbieten? Das würde den Laden noch attraktiver machen“, überlegt er.
Auch Kooperationen mit regionalen Initiativen könnten eine Option sein. Der „Dorfladen 2.0“ könnte beispielsweise als Plattform für Veranstaltungen oder Informationsabende dienen. Zudem prüft Hartmann, ob eine Crowdfunding-Kampagne zur Finanzierung weiterer Investitionen in die Infrastruktur beitragen könnte.
Ein weiteres Ziel ist die bessere Einbindung von Technologie. Während die Automaten derzeit noch überwiegend mechanisch arbeiten, könnten in Zukunft digitale Schnittstellen wie QR-Codes oder eine App zur Bedienung der Geräte integriert werden. Damit ließe sich nicht nur der Komfort erhöhen, sondern auch die Reichweite erweitern.
Fazit: Ein Modell mit Strahlkraft
Der vollautomatische Dorfladen in Sindringen zeigt, wie innovative Ansätze helfen können, die Lebensqualität in ländlichen Gebieten zu verbessern. Trotz technischer und wirtschaftlicher Herausforderungen stellt das Projekt einen wichtigen Schritt in Richtung Selbstversorgung und sozialer Teilhabe dar. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Gemeinden dem Beispiel folgen und ähnliche Lösungen finden. Denn wie Stefan Hartmann treffend sagt: „Manchmal muss man erst etwas verlieren, um zu erkennen, wie wichtig es war.“
Quellen
- Thünen-Institut. (2020). „Erreichbarkeit von Grundversorgungseinrichtungen in ländlichen Regionen“. https://www.thuenen.de/de/thema/grundversorgung
- Süddeutsche Zeitung. (2023). „Innovationen für die Provinz: Wie neue Konzepte das Dorfleben retten“. https://www.sueddeutsche.de/leben/dorfladen-automatisierung
- Deutschlandfunk Kultur. (2022). „Lebensmittelversorgung auf dem Land: Wenn der Laden fehlt“. https://www.deutschlandfunkkultur.de/dorfladen-zukunft-100.html
- Statistisches Bundesamt. (2021). „Strukturdaten zu ländlichen Regionen in Deutschland“. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/laendliche-regionen
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