Die Gesellschaft verändert sich rasant: Familien ziehen auseinander, traditionelle Nachbarschaftsstrukturen bröckeln, und viele ältere Menschen bleiben allein zurück. Besonders Senioren stehen vor einem Problem, das oft unterschätzt wird: der Isolation. Mit zunehmendem Alter, nach dem Verlust von Partnern oder Freunden, wird das Risiko der Vereinsamung immer größer. Studien belegen, dass Einsamkeit die Lebensqualität stark mindert und ernste gesundheitliche Folgen haben kann. Aber es gibt Hoffnung – in Form von Gemeinschaftsprojekten, die das soziale Miteinander stärken.
Einsamkeit: Eine stille Krise
Isolation ist nicht nur ein psychisches, sondern auch ein körperliches Gesundheitsrisiko. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) betrachtet Einsamkeit inzwischen als globales Gesundheitsproblem. Untersuchungen zeigen, dass einsame Senioren ein 26 % höheres Risiko haben, frühzeitig zu sterben, verglichen mit Gleichaltrigen, die sozial eingebunden sind (Holt-Lunstad et al., 2015). Sie leiden häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen und Demenz.
Hinzu kommen praktische Hürden: Für viele ältere Menschen wird der Gang zum Supermarkt oder Arzt zur Herausforderung, wenn Mobilität eingeschränkt ist und Unterstützung fehlt. Gleichzeitig wächst in Städten die Anonymität. Das Konzept der Nachbarschaft, in der man sich gegenseitig unterstützt, schwindet zunehmend. Hier setzen innovative Initiativen an, die diese Lücke füllen und neue Formen des sozialen Zusammenhalts schaffen.
Die Idee: Nachbarschaft als Gesundheitsförderer
Ein bemerkenswertes Beispiel ist das Projekt „Gesunde Nachbarschaften“, das 2018 von der AOK Rheinland/Hamburg in Kooperation mit dem Netzwerk Nachbarschaft ins Leben gerufen wurde. Ziel des Programms ist es, ältere Menschen in ihren Stadtteilen besser zu vernetzen und ihnen die Unterstützung zu bieten, die sie benötigen, um möglichst lange eigenständig und gesund zu leben.
Die AOK Rheinland/Hamburg, eine der größten gesetzlichen Krankenkassen Deutschlands, hat erkannt, dass Gesundheitsförderung über medizinische Versorgung hinausgeht. Durch die Förderung von nachbarschaftlichen Projekten will sie die Lebensqualität steigern, soziale Isolation abbauen und präventiv wirken. Das Netzwerk Nachbarschaft, das seit 2004 erfolgreich Projekte zur Förderung von Nachbarschaften unterstützt, war der ideale Partner. Gemeinsam schufen sie den Förderpreis „Gesunde Nachbarschaften“, der jedes Jahr herausragende Projekte mit bis zu 10.000 Euro auszeichnet (AOK Rheinland/Hamburg, 2024).
Wie Nachbarschaft funktioniert: Erfolgreiche Projekte
Ein Vorzeigeprojekt ist die „Machbarschaft Wandsbek-Hinschenfelde“ in Hamburg. Dieses 2014 gegründete Netzwerk hat sich auf die Fahne geschrieben, Senioren in der Nachbarschaft zu unterstützen. Hier gibt es regelmäßige Treffen, bei denen sich ältere Menschen und Freiwillige kennenlernen können. Besonders erfolgreich ist das Konzept der „Spazier-Patenschaften“: Ehrenamtliche begleiten Senioren bei kurzen Spaziergängen. Für viele ältere Menschen ist dies nicht nur eine Möglichkeit, mobil zu bleiben, sondern auch eine Gelegenheit für Austausch und soziale Kontakte.
Ebenso beeindruckend ist der „BWB Gemeinschaftsgarten Flingern“ in Düsseldorf. Hier bewirtschaften Anwohner gemeinsam einen Garten, der zum Ort des Austauschs geworden ist. Senioren profitieren dabei besonders: Sie bringen ihr Wissen über Gartenarbeit ein, knüpfen Kontakte und sind körperlich aktiv. Gleichzeitig profitieren jüngere Teilnehmer von der Erfahrung der älteren Generation – eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten.
Ein weiteres Beispiel kommt aus Köln: Der Verein „Helfende Hände in Ehrenfeld“ organisiert Einkaufshilfen, Begleitungen zu Arztterminen oder kleine Reparaturarbeiten. Der Verein, der mit Unterstützung des Förderpreises der AOK gegründet wurde, setzt vollständig auf Freiwillige. Deren Motivation speist sich oft aus dem Wunsch, der eigenen Nachbarschaft etwas zurückzugeben.
Der Weg zur Erfolgsgeschichte
Hinter solchen Projekten stehen oft engagierte Einzelpersonen oder kleine Initiativen, die mit einer großen Idee starten. Die Gründer der „Machbarschaft Wandsbek-Hinschenfelde“ waren beispielsweise ein ehemaliger Sozialarbeiter und eine pensionierte Lehrerin, die in ihrem Stadtteil den zunehmenden Rückzug älterer Nachbarn bemerkten. Mit einem kleinen Team und der Unterstützung durch die AOK konnten sie ihr Projekt über Jahre ausbauen. Mittlerweile zählt die Initiative über 50 regelmäßige Freiwillige und hat Dutzende Senioren unterstützt.
Der Gemeinschaftsgarten in Düsseldorf entstand aus einer Nachbarschaftsversammlung, bei der die Idee für einen gemeinsamen Garten als Möglichkeit der Begegnung vorgeschlagen wurde. Heute ist er ein lebendiger Ort, an dem regelmäßig Veranstaltungen stattfinden – von Erntefesten bis zu Kochworkshops.
Wissenschaftliche Grundlage: Warum Nachbarschaften wirken
Die positiven Effekte solcher Projekte sind nicht nur anekdotisch, sondern wissenschaftlich untermauert. Eine Studie der AOK zeigt, dass in Quartieren mit starker Nachbarschaftshilfe Senioren zufriedener mit ihrer Wohnsituation und ihrem Alltag sind. Sie fühlen sich sicherer, gesünder und weniger allein (AOK Rheinland/Hamburg, 2024).
Ein Schlüsselfaktor ist dabei das Gefühl der Zugehörigkeit. Der Kontakt zu Nachbarn, sei es durch ein gemeinsames Gartenprojekt oder den Austausch beim Spaziergang, vermittelt das Gefühl, gebraucht zu werden. Gleichzeitig fördert es die Resilienz gegenüber Alterskrankheiten, weil soziale Aktivität und psychisches Wohlbefinden eng miteinander verknüpft sind.
Wie geht es weiter?
Das Konzept der gesunden Nachbarschaften hat gezeigt, dass Nachbarschaft nicht nur ein abstrakter Begriff sein muss. Es gibt unzählige kreative Ansätze, um die Lücke zu schließen, die durch den Wegfall traditioneller Strukturen entstanden ist. Die Zusammenarbeit von Krankenkassen, lokalen Initiativen und Freiwilligen ist dabei ein entscheidender Erfolgsfaktor.
Ein Blick auf die bisherigen Preisträger des Förderpreises zeigt: Es gibt noch viel Potenzial, solche Projekte auszuweiten und langfristig zu etablieren. Mit zusätzlicher Förderung, etwa durch Kommunen oder private Stiftungen, könnten ähnliche Initiativen in weiteren Regionen Deutschlands Fuß fassen.
Quellenangaben:
- AOK Rheinland/Hamburg (2024). „Gesunde Nachbarschaften: Förderpreis für kreative Anwohner-Projekte.“ Verfügbar unter: https://www.aok.de/pp/rh/pm/gesunde-nachbarschaften-foerderpreis-fuer-kreative-anwohner-projekte/
- Netzwerk Nachbarschaft (n.d.). „Gesunde Nachbarschaften – Förderpreis.“ Verfügbar unter: https://aok-foerderpreis.netzwerk-nachbarschaft.net/rh/home
- Holt-Lunstad, J., Smith, T. B., & Layton, J. B. (2015). „Social Relationships and Mortality Risk: A Meta-analytic Review.“ PLOS Medicine, 7(7), e1000316.
- AOK Rheinland/Hamburg (2024). „Studie: Gesunde Nachbarschaften.“ Verfügbar unter: https://www.aok.de/pp/rh/pm/studie-gesunde-nachbarschaften/
guteideen.org © 2024 by Gute Ideen ist lizenziert unter CC BY 4.0 . Kurz erklärt: Nutze alles und verlinke auf diesen Artikel.