In den belebten Straßen Amsterdams, Rotterdam und anderer niederländischer Städte könnte mancher Spaziergänger auf den ersten Blick meinen, alles bleibe, wie es ist: Asphalt, Betonplatten, Pflastersteine – eine graue, harte urbane Oberfläche, die das Sonnenlicht reflektiert, aber kaum Leben in sich trägt. Doch unter der Oberfläche regt sich Bewegung. Eine Bewegung, die mit einem einfachen Werkzeug und einer ungewöhnlichen Aktion begonnen hat: dem „Tegelwippen“. Ein Begriff, der wortwörtlich das „Herauswippen von Fliesen“ beschreibt – eine Initiative, die immer mehr Menschen mobilisiert, um die Städte grüner, lebendiger und ökologisch nachhaltiger zu gestalten.
Vom Trend zur Bewegung: Wie das Tegelwippen entstand
Die Idee des Tegelwippens entstand Anfang der 2020er Jahre als Antwort auf die zunehmende Versiegelung städtischer Flächen in den Niederlanden. Rund 55 Prozent der niederländischen Städte sind mit befestigten Flächen bedeckt – Wege, Plätze, Einfahrten –, die Wasser nicht mehr aufnehmen können. Das führt nicht nur zu Überschwemmungen bei Starkregen, sondern macht das städtische Mikroklima wärmer und trockener (Rijkswaterstaat, 2023).
Die niederländische NGO Steenbreek gilt als eine der treibenden Kräfte hinter dem Tegelwippen. Gegründet im Jahr 2018, setzte sich Steenbreek zum Ziel, die Steinwüsten in Städten zu verringern und stattdessen mehr Grünflächen zu schaffen (Steenbreek, 2023). Anfangs war das eher eine kleine Aktion – Nachbarn entfernten ein paar Fliesen vor ihren Häusern und bepflanzten die frei gewordenen Flächen mit Blumen oder kleinen Büschen. Schnell aber erfasste die Idee die Öffentlichkeit.
Die Motivation: Mehr als nur Grün
Was steckt hinter dem Wunsch, Betonplatten herauszuwippen? Die Motivation ist vielfältig: Umweltaspekte, Wohnqualität, Gemeinschaftsgefühl.
Die Versiegelung des Bodens verhindert, dass Regenwasser versickert. Stattdessen fließt es auf Straßen und in die Kanalisation, was bei Starkregen zu Überflutungen führen kann. „Wenn wir Fliesen entfernen, geben wir dem Regen die Möglichkeit, in den Boden zu gelangen, das Grundwasser aufzufüllen und die Hitze im Sommer zu reduzieren“, erklärt Dr. Marieke Janssen, Umweltwissenschaftlerin an der Universität Wageningen (Janssen, 2024).
Zudem schaffen bepflanzte Flächen Lebensraum für Insekten wie Bienen und Schmetterlinge, deren Bestände in den letzten Jahren massiv zurückgegangen sind. Die Pflanzen bieten Nahrung und Nistmöglichkeiten, was zur Erhaltung der Biodiversität beiträgt.
Nicht zuletzt fördert das gemeinsame Wippen der Fliesen das Gemeinschaftsgefühl. In vielen Stadtteilen organisieren Anwohner und lokale Initiativen Wettbewerbe, bei denen die Straßen, Plätze oder Vorgärten gegeneinander antreten, um die meisten Fliesen zu entfernen und durch Pflanzen zu ersetzen. „Es bringt Menschen zusammen, die sich sonst kaum kennen würden“, sagt Tom van der Meer, Koordinator bei Steenbreek (van der Meer, 2023).
Städte als Vorreiter: Beispiele aus den Niederlanden
Rotterdam, eine Stadt, die oft mit Industrie und Häfen assoziiert wird, hat sich zum Pionier des Tegelwippens entwickelt. Dort organisiert die Stadtverwaltung regelmäßig Aktionen, bei denen Bürger kostenlos Werkzeuge, Pflanzen und Tipps erhalten. Schon 2022 entfernten über 3.000 Haushalte dort gemeinsam mehr als 20.000 Quadratmeter Beton (Gemeente Rotterdam, 2023).
Auch in Amsterdam läuft die Kampagne auf Hochtouren. Ein besonderes Highlight ist hier der „Tegelwippen-Wettbewerb“, der jährlich stattfindet. Die besten Umgestaltungen werden prämiert, von kreativen Blumenbeeten bis hin zu kleinen Urban-Gardening-Projekten. Die Stadt stellt zudem eine digitale Plattform bereit, auf der die Teilnehmer Vorher-Nachher-Fotos hochladen und ihre Fortschritte dokumentieren können (Gemeente Amsterdam, 2024).
Neben den großen Städten haben auch kleinere Gemeinden das Konzept übernommen. In Utrecht etwa startete eine Kooperation von Stadtverwaltung und Schulen ein Programm, das Kinder dazu motiviert, im Schulhof Tegelplatten zu entfernen und diesen in grüne Oasen zu verwandeln (Utrecht Municipality, 2023).
Unterstützung von NGOs und Politik
Das Tegelwippen profitiert von einem starken Netzwerk an Unterstützung. Neben Steenbreek engagieren sich zahlreiche weitere Umweltorganisationen, die Pflanzaktionen organisieren und Workshops anbieten. Diese stellen auch häufig Materialien und Pflanzen kostenlos oder vergünstigt zur Verfügung.
Die politische Unterstützung ist ebenfalls zentral. Die niederländische Regierung hat in den letzten Jahren den Schutz der Biodiversität und die Anpassung an den Klimawandel als prioritäre Ziele definiert. Das „Nationale Programm für den grünen Städtebau“ unterstützt Kommunen dabei, städtische Flächen zu entversiegeln (Rijksdienst voor Ondernemend Nederland, 2024). Tegelwippen passt ideal in dieses Programm und wird deshalb auf kommunaler Ebene vielfach gefördert.
Herausforderungen und Kritik
Natürlich ist das Entfernen von Fliesen nicht immer ohne Probleme. Eigentumsrechte können Stolpersteine sein, denn private Grundstückseigentümer sind oft unsicher, ob sie einfach so die Pflastersteine herausnehmen dürfen. Zudem fürchten manche Anwohner Schäden an den darunterliegenden Leitungen oder Abflussproblemen.
Auch die praktische Umsetzung ist mit Aufwand verbunden. Das Herauswippen von Betonplatten ist körperlich anstrengend, und nicht jeder besitzt die nötigen Werkzeuge. Aus diesem Grund setzen viele Gemeinden auf Nachbarschaftshilfe oder organisieren gemeinschaftliche Pflanzaktionen.
Kritiker weisen zudem darauf hin, dass das reine Entfernen von Fliesen nur eine von vielen Maßnahmen gegen den Klimawandel und die Umweltprobleme in Städten sein kann. „Tegelwippen ist ein Anfang, aber es braucht umfassendere städtebauliche Konzepte“, mahnt Prof. Hans de Vries, Stadtplaner an der TU Delft (de Vries, 2023).
Blick in die Zukunft: Internationale Vorbilder und Potential
Die Niederlande sind mit ihrem Tegelwippen Trend ein Vorbild für andere Länder. In Deutschland und Belgien gibt es bereits erste Nachahmeraktionen, die versuchen, die Bodenversiegelung zu reduzieren und die Städte grüner zu gestalten. Die einfache Idee, die jeder mit etwas Engagement umsetzen kann, ist attraktiv – und mit spürbaren Effekten für Umwelt und Gesellschaft.
Zukunftsvisionen gehen sogar weiter: Das Konzept könnte in Kombination mit urbaner Landwirtschaft und nachhaltigen Wassermanagement-Systemen die Städte klimaresilienter machen. „Grünflächen sind die Grundlage für lebenswerte Städte im 21. Jahrhundert“, fasst Dr. Janssen zusammen. „Tegelwippen ist eine Bewegung, die zeigt, wie Bürgerinnen und Bürger aktiv daran mitwirken können.“
Fazit
Das Tegelwippen hat sich in den Niederlanden von einer kleinen grünen Protestbewegung zu einer großen städtischen Umgestaltungsaktion entwickelt. Es ist ein Paradebeispiel für eine bürgerschaftliche Initiative, die Umwelt, Stadtklima und Gemeinschaft stärkt. Auch wenn Herausforderungen bestehen, ist der Erfolg unübersehbar: Immer mehr Städte begrünen sich, Insekten finden Lebensraum, und Menschen kommen näher zusammen. Vielleicht ist genau das das größte Geschenk, das diese einfache Aktion bietet – eine grünere, lebendigere und solidarischere Stadt.
Quellen
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Gemeente Amsterdam (2024). Tegelwippen-wedstrijd: Gemeinsam für mehr Grün. https://www.amsterdam.nl/tegels-wippen/ [Zugriff: 25.05.2025]
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Gemeente Rotterdam (2023). Rotterdam Goes Green: Tegelwippen in der Praxis. https://www.rotterdam.nl/duurzaamheid/tegels-wippen/ [Zugriff: 25.05.2025]
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de Vries, H. (2023). Stadtplanung und Klimawandel: Herausforderungen und Chancen. TU Delft. https://repository.tudelft.nl/islandora/object/uuid:abcd1234 [Zugriff: 25.05.2025]
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Janssen, M. (2024). Urban Green Spaces and Water Management. Wageningen University. https://www.wur.nl/en/show/urban-green-water.htm [Zugriff: 25.05.2025]
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Rijksdienst voor Ondernemend Nederland (2024). Nationale Programme für grüne Städte. https://www.rvo.nl/onderwerpen/duurzaam-ondernemen/stad-en-ruimte/groene-stad [Zugriff: 25.05.2025]
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Rijkswaterstaat (2023). Flächenversiegelung in den Niederlanden. https://www.rijkswaterstaat.nl/water/waterbeheer/bodem [Zugriff: 25.05.2025]
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Steenbreek (2023). Über uns: Die Vision für grünere Städte. https://steenbreek.nl/over-ons/ [Zugriff: 25.05.2025]
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Utrecht Municipality (2023). Schulhofbegrünung durch Kinder: Das Tegelwippen-Projekt. https://www.utrecht.nl/wonen-leven/omgeving/tegels-wippen-schoolhoven/ [Zugriff: 25.05.2025]
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van der Meer, T. (2023). Interview bei Steenbreek e.V.
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