Speed-Dating für Senioren – weil das Leben schöner ist zu zweit.

Koekelberg, eine kleine Gemeinde im Nordwesten von Brüssel, ist nicht unbedingt für Aufsehen erregende soziale Experimente bekannt. Doch seit einiger Zeit zieht ein ungewöhnliches Projekt die Aufmerksamkeit auf sich: In mehreren Altenheimen organisieren Pfleger regelmäßig Speed-Dating für Senioren. Was zunächst nach einem PR-Gag klingt, verfolgt ein tief ernsteres Ziel: Einsamkeit im Alter zu lindern und soziale Bindungen zu fördern.

Ein Pfleger mit einer großen Idee

Die Idee stammt von Olivier Debecker, einem engagierten Pfleger im Altersheim „Résidence Saint-Augustin“ in Koekelberg. Schon lange beobachtete er, wie viele seiner Bewohnerinnen und Bewohner mit der Einsamkeit kämpfen. „Sie haben oft niemanden mehr. Die Kinder leben weit weg, die Freunde sind verstorben, und der Alltag ist eintönig“, sagte Debecker in einem Interview mit dem belgischen Fernsehsender RTBF (RTBF, 2023).

Statt sich mit diesem Zustand abzufinden, griff Debecker zu einem ungewöhnlichen Mittel: Er veranstaltete ein Speed-Dating für Senioren – nicht zwingend mit dem Ziel, Liebespaare zu finden, sondern um zwischenmenschliche Kontakte zu fördern. Die Idee war ein voller Erfolg.

Speed-Dating für Senioren: Zwischen Neugier, Nervosität und Lebensfreude

Beim Speed-Dating für Senioren nehmen etwa zehn bis fünfzehn Personen teil, jeweils zur Hälfte Männer und Frauen. Sie sitzen sich in einem festlichen Rahmen gegenüber, haben rund fünf Minuten Zeit zum Austausch und wechseln dann den Platz. Dabei entstehen teils innige Gespräche über Vergangenheit, Reisen, Verlust und Hoffnung. Es wird gelacht, manchmal auch geweint.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich mich mit 82 noch einmal verliebe“, sagte Germaine, Bewohnerin eines teilnehmenden Heims, der belgischen Zeitung Le Soir (Le Soir, 2023). „Aber hier geht es nicht nur um Romantik. Ich habe neue Freundinnen gefunden, mit denen ich jeden Tag Karten spiele.“

Einsamkeit als unterschätzte Volkskrankheit

Die Initiative von Debecker ist keine Spielerei – sie trifft den Nerv eines weit verbreiteten gesellschaftlichen Problems. Laut einer EU-weiten Studie aus dem Jahr 2021 fühlen sich rund 20 % der über 65-Jährigen häufig oder sehr häufig einsam (Eurostat, 2021). Einsamkeit ist dabei nicht nur ein emotionales Leiden, sondern hat erwiesenermaßen gravierende gesundheitliche Auswirkungen. Sie erhöht das Risiko für Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Demenz (Holt-Lunstad et al., 2015).

Gerade in Pflegeheimen, wo viele Menschen leben, aber wenige echte Begegnungen stattfinden, ist das Risiko besonders hoch. Die COVID-19-Pandemie hat diese Isolation vielerorts noch verschärft. „Soziale Interaktion ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für ein gesundes Altern“, sagt Prof. Liesbeth De Donder, Gerontologin an der Vrije Universiteit Brussel.

Der Anfang war nicht leicht

Trotz des heutigen Erfolgs verlief der Start dea Speed-Dating für Senioren holprig. Debecker berichtet, dass es zunächst Widerstände im Team gab. Manche Kolleginnen und Kollegen hielten das Konzept für unseriös, manche Bewohnerinnen und Bewohner fürchteten sich vor der Blamage. „Aber dann haben wir klein angefangen, mit nur vier Paaren. Und plötzlich sprach sich herum, wie schön die Gespräche waren“, erinnert sich Debecker.

Auch die Familien der Teilnehmenden reagierten teilweise kritisch. Einige hielten es für unpassend, dass ihre Eltern oder Großeltern in hohem Alter noch auf Partnersuche gingen. Doch die positiven Rückmeldungen und die spürbare Verbesserung der Stimmung im Heim überzeugten schließlich auch die Skeptiker.

Mehr als ein Event – ein neuer Blick auf das Alter

Mittlerweile hat das Speed-Dating für Senioren in mehreren Einrichtungen in Koekelberg und angrenzenden Gemeinden Fuß gefasst. Unterstützt wird die Initiative von der Kommune und lokalen Seniorenorganisationen. Der Bürgermeister von Koekelberg, Ahmed Laaouej, zeigte sich beeindruckt: „Solche Projekte geben dem Alter einen neuen Wert. Sie zeigen, dass das Leben auch mit 80 oder 90 noch voller Möglichkeiten steckt.“

Für Debecker ist es aber mehr als ein Veranstaltungsformat – es ist ein Perspektivwechsel. „Wir müssen aufhören, das Alter als Stillstand zu sehen. Auch alte Menschen haben Sehnsucht, Wünsche, den Wunsch nach Nähe. Warum sollten sie darauf verzichten?“

Speed-Dating für Senioren bekam Internationale Aufmerksamkeit

Was als lokales Projekt begann, findet inzwischen internationale Beachtung. Medien aus Frankreich, Deutschland und den Niederlanden berichteten über das Konzept. Es gab Anfragen von Seniorenheimen in Wien, Paris und Barcelona, die ähnliche Events planen. Auch Fachzeitschriften der Gerontologie interessieren sich zunehmend für das Phänomen der „Emotionalen Reanimation“ durch gezielte soziale Events.

Die Initiative passt in einen größeren Trend der „emotionalen Innovation“ im Pflegesektor. Immer mehr Einrichtungen setzen auf partizipative, menschlich geprägte Modelle der Betreuung. Dabei geht es nicht nur um Pflege, sondern um Lebensqualität.

Fazit: Menschlichkeit macht den Unterschied

Das Beispiel aus Koekelberg zeigt eindrucksvoll, wie viel Wirkung eine einfache Idee entfalten kann – wenn sie aus echter menschlicher Anteilnahme geboren wird. Speed-Dating im Altersheim mag auf den ersten Blick unkonventionell wirken, doch es bringt Menschen zusammen, die sonst allein wären. Es bringt Lachen in Räume, die lange still waren. Und es schenkt Mut, dass es nie zu spät ist für Nähe und Verbindung.

Olivier Debecker hat mit seinem Projekt nicht nur Herzen bewegt, sondern ein Beispiel gesetzt, das weit über die Gemeindegrenzen hinausstrahlt. Es ist ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit in der Pflege – und für die Kraft der Begegnung.


Quellenangaben (Harvard Referencing):

 

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