Wie das Projekt #3000Garagen in Chemnitz alte Garagenhöfe aus der DDR-Zeit in Orte der Kultur verwandelt – und damit ein Stück ostdeutscher Identität sichtbar macht
Chemnitz – Es ist ein stiller Sonntagvormittag in Sachsen, als eine Gruppe Jugendlicher in einem Garagenhof an der Zietenstraße eine bemalte Trabi-Karosserie aufstellt. Was aussieht wie eine Szene aus einem alternativen Kunstfestival, ist Teil eines ambitionierten Kulturprojekts: #3000Garagen, eines der auffälligsten Vorhaben im Rahmen der Ernennung von Chemnitz zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025.
Chemnitz, die drittgrößte Stadt Sachsens, ist nicht für spektakuläre Architektur oder pulsierendes Nachtleben bekannt. Doch unter der Oberfläche schlummern Geschichten – und viele davon beginnen in einer Garage. Genauer gesagt in einem der rund 30.000 Garagenkomplexe, die noch aus der Zeit der DDR stammen (Freie Presse, 2022). Was einst als praktische Lösung für das Parkplatzproblem in der sozialistischen Planstadt gedacht war, entwickelte sich zu einem Refugium für Heimwerker, Bastler und subkulturelle Experimente.
Von Werkzeugschrank zu Werkraum
„Diese Garagen waren nie nur zum Parken da“, sagt Franziska Nitsche, Projektleiterin von #3000Garagen bei der Kulturhauptstadt GmbH. „Sie waren Ateliers, Bandproberäume, Werkstätten. Es gibt sogar Menschen, die ihre Dissertation darin geschrieben haben.“ Mit dem Projekt will das Team der Kulturhauptstadt diese Räume nun ins Licht der Öffentlichkeit rücken – und ihre kulturelle, soziale und historische Bedeutung erfahrbar machen.
Im Zentrum steht dabei nicht nur die architektonische Substanz der Garagen, sondern ihre symbolische Kraft: Orte, die Kreativität unter Restriktionen ermöglichen, die improvisierte Lösungen belohnen – und die exemplarisch für eine ostdeutsche Selbstwirksamkeit stehen, die nach 1990 allzu oft übersehen wurde (Böick, 2018).
Zwischen Verfall und Vision
Die Herausforderung: Viele Garagen sind heute baufällig, ihre rechtliche Lage oft unklar. Viele stehen auf Grundstücken, die nach der Wiedervereinigung privatisiert oder vererbt wurden – ohne klare Besitzverhältnisse. Die Folge: Leerstand, Abriss oder Zweckentfremdung.
Doch das Projekt #3000Garagen setzt genau hier an. Es identifiziert ausgewählte Garagenhöfe, restauriert sie mit lokalen Handwerksbetrieben und Künstler*innen und macht sie dann für Ausstellungen, Workshops, Konzerte oder Lesungen zugänglich. „Wir holen die Garagen zurück ins kollektive Bewusstsein“, sagt Nitsche.
Ein zentrales Festival findet im Sommer 2025 statt, mit Interventionen an über einem Dutzend Standorten in der Stadt. Lokale und internationale Künstlerinnen arbeiten dafür mit ehemaligen Garagennutzerinnen zusammen, um deren Geschichten zu erzählen – von der ersten Bandprobe über illegale Autoimporte bis hin zu Nachbarschaftshilfe in der DDR-Zeit.
Chemnitz sucht Identität – und findet sie in Wellblech
Dass ein Projekt wie #3000Garagen gerade in Chemnitz entstehen kann, ist kein Zufall. Die Stadt – früher Karl-Marx-Stadt – ringt seit Jahren mit einem Imageproblem. Viele Medienberichte fokussierten in der Vergangenheit auf rechtsextreme Aufmärsche, Strukturprobleme oder Wegzug junger Menschen (Tagesschau, 2020). Doch die Entscheidung, Chemnitz zur Kulturhauptstadt 2025 zu ernennen, brachte einen Wandel – und eine Chance zur Selbstvergewisserung.
„Wir wollten ein Projekt schaffen, das nicht Hochglanz ist, sondern ehrlich“, sagt Nitsche. „Etwas, das mit den Menschen zu tun hat, die hier leben oder gelebt haben.“ Das ist gelungen. Inzwischen haben sich auch ehemalige DDR-Bürgerinnen, junge Kunststudentinnen und städtische Verwaltungen miteinander vernetzt. Das Projekt ist nicht nur Kunstvermittlung – es ist auch Stadtentwicklung.
Werkbank für Europa?
Ein weiterer Aspekt macht das Projekt besonders: Es ist nicht rückwärtsgewandt. Vielmehr versucht #3000Garagen, aus dem Geist des Improvisierens und Bastelns eine neue, europäische Idee von Gemeinschaft zu formen. In Workshops etwa wird gezeigt, wie man mit recyceltem Material Möbel baut. In anderen Veranstaltungen geht es um Nachbarschaftsprojekte, urbane Landwirtschaft oder solidarische Ökonomien – alles in, an oder zwischen Garagen.
Das Projekt ist damit auch ein Beispiel für den wachsenden Trend zu „Reallaboren“ in der Stadtentwicklung, also zu Orten, an denen experimentell neue Lebens- und Arbeitsformen ausprobiert werden – niedrigschwellig, partizipativ, lokal verankert (Schneidewind, 2021).
#3000Garagen – Die Garage als Kulturerbe
Die Historikerin Dr. Stefanie Böttcher von der TU Dresden forscht zur Alltagsgeschichte in der DDR und begleitet das Projekt wissenschaftlich. Für sie sind die Garagen „ein Stück materielles Gedächtnis“ – vergleichbar mit Schrebergärten, Plattenbauten oder Trabis. „In diesen Räumen manifestiert sich eine Kultur der Aneignung, des Eigenbaus, der sozialen Nischen – das ist historisch hochinteressant.“
Gerade in einer Zeit, in der viele ostdeutsche Biografien aus dem öffentlichen Diskurs zu verschwinden drohen, sei das Projekt auch ein Akt der Anerkennung. Es mache sichtbar, wie viel Kreativität und Selbstorganisation im Schatten staatlicher Kontrolle existiert hat – und wie daraus Zukunftsideen entstehen können.
Fazit: Ein Wellblechdach gegen das Vergessen
Das Projekt #3000Garagen zeigt, wie man aus dem Unspektakulären etwas Einzigartiges machen kann. Wie aus verrosteten Garagentoren eine lebendige Erinnerungskultur entsteht. Und wie eine Stadt, die lange übersehen wurde, plötzlich zu einem Labor für europäische Zukunftskultur wird.
Ob das langfristig trägt, wird sich zeigen. Aber schon jetzt ist klar: Wer in Chemnitz eine Garage betritt, betritt nicht einfach einen Raum aus Beton und Wellblech – sondern einen Raum der Möglichkeiten.
Quellen
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Böick, M. (2018): Die Treuhand: Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994. Göttingen: Wallstein Verlag.
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Freie Presse (2022): „In Chemnitz stehen noch 30.000 DDR-Garagen – was aus ihnen wird, ist unklar.“ [online] Available at: https://www.freiepresse.de/chemnitz/30000-ddr-garagen-in-chemnitz-artikel11798753
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Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 (2024): Projektbeschreibung #3000Garages. [online] Available at: https://chemnitz2025.de/projekte/3000garages/
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Schneidewind, U. (2021): Die Große Transformation: Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt/Main: Fischer Verlag.
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Tagesschau (2020): „Chemnitz – die unterschätzte Stadt“. [online] Available at: https://www.tagesschau.de/inland/chemnitz-portrait-101.html
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