Auf vier Rollen gegen das Patriarchat: Wie äthiopische Mädchen mit Skateboards die Gesellschaft verändern

Wenn Rollen mehr als nur Räder sind

Inmitten des chaotischen Verkehrs von Addis Abeba, wo sich Straßenhändler, Minibusse und Fußgänger einen schmalen urbanen Raum teilen, sind sie kaum zu übersehen: Mädchen mit Skateboards unter dem Arm, oft in bunter Kleidung und mit Entschlossenheit in den Augen. Die Szene wirkt ungewöhnlich – und ist doch ein sichtbares Zeichen eines kulturellen Wandels. In einer Gesellschaft, in der Mädchen traditionell zum Schweigen und Gehorsam erzogen werden, verschieben diese Jugendlichen mit jedem Ollie und Kickflip die Grenzen des Möglichen.

Die Bewegung dahinter nennt sich Ethiopian Girl Skaters (EGS) – die erste rein weibliche Skateboardgruppe des Landes. Ihr Ziel ist ambitioniert: Mädchen und junge Frauen in Äthiopien – und langfristig auf dem gesamten afrikanischen Kontinent – zu ermutigen, groß zu träumen, sichtbar zu werden und gesellschaftliche Barrieren zu überwinden. Und das mit einem Skateboard unter den Füßen.

Ein Sport als Herausforderung für kulturelle Normen

In Äthiopien sind klare Geschlechterrollen allgegenwärtig: Mädchen sollen leise, fügsam und häuslich sein. Skateboarding passt da nicht ins Bild. Der Sport wird oft als männlich, rebellisch oder gar gefährlich wahrgenommen. Viele Mädchen, die sich aufs Brett wagen, müssen mit Spott, Ablehnung oder sogar offener Feindseligkeit rechnen – nicht nur von Fremden, sondern oft auch aus dem direkten Umfeld.

„Skateboarding war lange ein Symbol für Jungen, die sich austoben“, erklärt Sosina Challa, eine der Gründerinnen der EGS. „Aber warum sollen Mädchen nicht genauso laut, stark und frei sein dürfen?“ Die öffentliche Sichtbarkeit der Skaterinnen ist ein bewusster Akt des Widerstands gegen tiefsitzende patriarchale Strukturen.

Hinzu kommt: Die Bedingungen sind hart. Skateboards sind teuer, Ersatzteile schwer zu bekommen. Skateparks gibt es kaum. Viele Kinder teilen sich ein Board oder fahren auf improvisierten Rampen. Dennoch ist die Nachfrage groß. Der Wunsch nach Freiheit auf vier Rollen wächst – insbesondere bei Mädchen, denen kaum andere Räume zur Selbstverwirklichung offenstehen.

Die Geburtsstunde der Ethiopian Girl Skaters

Gegründet wurde EGS im Dezember 2020 von den beiden leidenschaftlichen Skaterinnen Sosina Challa und Micky Asfaw. Beide hatten zuvor Erfahrung mit gemischten Skate-Gruppen gesammelt, mussten dort aber immer wieder feststellen, dass Mädchen nicht ernst genommen, unterbrochen oder gar ausgeschlossen wurden. Ihre Idee war es daher, einen eigenen sicheren Raum zu schaffen, in dem Mädchen nicht nur Skateboarden lernen, sondern auch Selbstbewusstsein, körperliche Autonomie und Gemeinschaft erleben können.

Die Organisation ist als Community-Initiative ohne Gewinnorientierung konzipiert. Sie arbeitet eng mit lokalen Partnern und internationalen NGOs wie Make Life Skate Life zusammen und finanziert sich über Spenden, Fördergelder und Sachleistungen wie gebrauchte Boards und Helme. Seit der Gründung haben sich über 150 Mädchen im Alter zwischen 5 und 25 Jahren bei den wöchentlichen Trainings beteiligt. Die aktive Kerngruppe besteht derzeit aus etwa 65 Skaterinnen.

Ein Skatepark wird zum Treffpunkt für Emanzipation

Jeden Samstag verwandelt sich der Addis Skatepark in ein Zentrum weiblicher Selbstermächtigung. Zwischen abblätterndem Beton, improvisierten Rails und bunten Graffitis trifft man auf konzentrierte Gesichter, laute Jubelrufe und gegenseitige Ermutigung. Die Mädchen bringen ihre jüngeren Geschwister mit, helfen sich gegenseitig beim Üben und filmen ihre Fortschritte. Für viele ist es der einzige Ort in der Woche, an dem sie einfach sie selbst sein können.

Neben dem Skateboard-Training bieten die EGS auch Workshops zu Selbstverteidigung, Menstruationsgesundheit, Fotografie und digitaler Kompetenz an. „Skateboarding ist nur der Anfang“, sagt Micky Asfaw. „Unser Ziel ist es, Mädchen auf allen Ebenen zu stärken – physisch, emotional, intellektuell.“

Diese ganzheitliche Herangehensweise unterscheidet die EGS von reinen Sportvereinen. Die Mädchen werden nicht nur zu besseren Skaterinnen, sondern auch zu lauteren Stimmen ihrer Generation. Viele von ihnen beginnen, sich mit feministischen Themen auseinanderzusetzen, ihre Rechte zu hinterfragen – und sich gegenseitig zu unterstützen, auch jenseits der Skateflächen.

Inspirierende Einzelschicksale

Die 16-jährige Hanan Mohammed etwa war früher schüchtern und wurde oft wegen ihres Kleidungsstils gehänselt. Heute ist sie eine der fortgeschrittensten Fahrerinnen der Gruppe und hilft beim Unterrichten der Jüngeren. „Früher hatte ich Angst, aufzutreten“, erzählt sie. „Jetzt weiß ich: Ich kann etwas, und ich darf gesehen werden.“

Oder Selam, 13 Jahre alt, deren Eltern zunächst strikt gegen das Skateboarden waren. „Sie fanden, es sei zu gefährlich, zu männlich.“ Doch als sie ihre Tochter zum ersten Mal fahren sahen, wie sie mit leuchtenden Augen über den Asphalt rollte, änderte sich ihre Meinung. Heute begleitet sie ihr Vater regelmäßig zum Training.

Diese Geschichten stehen exemplarisch für den Wandel, den die EGS in den Familien und der Gesellschaft anstoßen. Wo früher Ablehnung herrschte, wächst nun langsam Stolz. Und wo Mädchen sich unsichtbar fühlten, wird ihnen nun eine Bühne geboten.

Unterstützung aus dem Ausland – und nachhaltige Vernetzung

Die EGS sind nicht allein. Internationale Organisationen wie Skateistan, SkatePal und Make Life Skate Life fördern seit Jahren ähnliche Projekte in Ländern wie Afghanistan, Palästina oder Jordanien. Über diese Netzwerke erhalten die Ethiopian Girl Skaters nicht nur Materialspenden, sondern auch Zugang zu Weiterbildungen, globalen Skate-Events und medienwirksamer Sichtbarkeit.

Auch Medien wie Vogue, France24 und Olympics.com berichten inzwischen regelmäßig über die Bewegung. Diese Aufmerksamkeit führt zu neuen Fördermöglichkeiten, internationalen Einladungen und wachsendem Interesse bei jungen Mädchen im ganzen Land. Viele von ihnen reisen mittlerweile stundenlang, um an einem Samstagtraining teilzunehmen.

Langfristig träumen Challa und Asfaw von einem eigenen Skatepark nur für Mädchen, einem Community Center mit Medienecke, Bibliothek, Ruhebereich und eigenen Umkleiden. Die ersten Gespräche mit lokalen Behörden laufen – und die Chancen stehen gut. Denn langsam wird auch der politischen Ebene klar, dass Mädchenförderung nicht nur soziale, sondern auch wirtschaftliche Zukunft bedeutet.

Die Bedeutung der Bewegung für ganz Afrika

Was als lokale Initiative begann, hat das Potenzial zu einer kontinentalen Bewegung. In Ländern wie Südafrika, Nigeria, Kenia oder Tansania entstehen ähnliche Projekte. Die EGS stehen im Austausch mit Gruppen wie Indigo Skate Camp oder Boarders Without Borders. Gemeinsame Vision: Ein afrikanisches Skate-Netzwerk für Mädchen, das mehr ist als nur Sport – ein Vehikel für Bildung, Selbstbestimmung und politische Teilhabe.

„Afrika hat eine junge Bevölkerung“, sagt Sosina Challa. „Wenn wir jetzt in Mädchen investieren, investieren wir in die Zukunft des gesamten Kontinents.“

Fazit: Kleine Rollen, große Wirkung

Die Ethiopian Girl Skaters beweisen, wie viel Macht in scheinbar kleinen Dingen steckt. Ein Skateboard kann ein Spielzeug sein – oder ein Werkzeug für soziale Veränderung. Es kann Mädchen Mut machen, ihnen eine Stimme geben und eine Tür zu einer Welt öffnen, in der sie nicht mehr nur Zuschauerinnen sind, sondern Akteurinnen ihres eigenen Lebens.

Die Rollen mögen aus Plastik sein – doch was sie bewegen, ist tiefgreifend: mehr Sichtbarkeit, mehr Gerechtigkeit, mehr Freiheit. Und vielleicht eines Tages: echte Gleichberechtigung auf allen Ebenen.


Quellenangaben nach Harvard-Referenzsystem:

 

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