Leben ohne Auto: Wie Culdesac Tempe die urbane Zukunft neu denkt

Wenn das Auto draußen bleibt – und die Lebensqualität steigt

Die Vereinigten Staaten gelten als das Land der Highways und Parkplätze. In kaum einem anderen entwickelten Land ist das Leben so stark auf das eigene Auto ausgerichtet wie hier. Städte sind oft zersiedelt, der öffentliche Nahverkehr unterentwickelt, und Fußgänger haben es schwer, sich sicher und angenehm fortzubewegen. Wer kein Auto besitzt, ist meist ausgeschlossen – von Jobs, vom gesellschaftlichen Leben, von Einkaufsmöglichkeiten.

Diese autozentrierte Stadtplanung hat gravierende Folgen: Verkehrsüberlastung, schlechte Luftqualität, CO₂-Emissionen, soziale Isolierung und hohe Kosten für die Haushalte. Laut dem American Automobile Association (AAA) belaufen sich die durchschnittlichen jährlichen Kosten für den Unterhalt eines Autos in den USA auf über 12.000 US-Dollar – ein erheblicher Betrag, insbesondere für junge Menschen, Rentner oder Haushalte mit geringem Einkommen (AAA, 2023).

Doch es geht auch anders. In Tempe, einer Universitätsstadt im Großraum Phoenix, entstand in den letzten Jahren ein Projekt, das eine radikale Gegenposition einnimmt – und damit internationales Interesse weckt.

Culdesac Tempe – ein Stadtviertel ohne Autos, aber mit Vision

Culdesac Tempe nennt sich das erste komplett autofreie Neubauviertel der USA. Auf einem 17 Acre großen Gelände (etwa 6,9 Hektar), das zuvor ein Industriegebiet war, entsteht seit 2019 ein Wohnviertel, das auf das Auto vollständig verzichtet. Stattdessen setzt das Quartier auf Nähe, Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und Lebensqualität.

Die Idee dahinter: Menschen brauchen keine Autos, wenn sie alles, was sie zum Leben brauchen, zu Fuß, mit dem Fahrrad oder per Straßenbahn erreichen können. Der Ansatz ist nicht nur urbanistisch durchdacht, sondern auch eine klare Antwort auf die ökologischen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit.

Wer steckt dahinter?

Gegründet wurde Culdesac von Ryan Johnson, einem früheren Tech-Entrepreneur, der zuvor das Immobilien-Startup Opendoor mit aufgebaut hatte. Zusammen mit dem Architekten Jeff Berens und dem Planer Damien Goodmon wollte Johnson ein völlig neues Wohnmodell entwickeln – eines, das Mobilität, Gemeinschaft und Ökologie anders denkt.

Das Unternehmen Culdesac Inc. hat seinen Sitz in San Francisco und versteht sich als Developer für „walkable neighborhoods“. Culdesac Tempe ist ihr erstes großes Projekt. Mit einer Investitionssumme von über 200 Millionen US-Dollar, finanziert durch private Investoren, startete der Bau 2019. Die ersten Bewohner zogen 2023 ein – inzwischen leben mehr als 300 Menschen dort, in rund 288 Wohneinheiten. In der Endausbaustufe sollen es über 1.000 Bewohner werden.

Die Rechtsform des Unternehmens ist eine klassische Corporation, allerdings mit einem sozialen und ökologischen Anspruch, der weit über das Übliche hinausgeht.

Wie funktioniert autofreies Wohnen konkret?

In Culdesac Tempe gibt es keine Parkplätze für private Fahrzeuge. Bewohner dürfen keine Autos besitzen oder regelmäßig nutzen – das verpflichten sie sich vertraglich. Dafür gibt es Alternativen:

  • Direkter Anschluss an die Stadtbahn (Valley Metro Rail): Die Haltestelle ist nur wenige Schritte entfernt und verbindet das Viertel mit Downtown Tempe, Phoenix und dem Flughafen.

  • Carsharing-Flotten (u.a. mit EVs von Envoy), Fahrräder und E-Scooter stehen zur Verfügung.

  • Einzelhandel, Cafés, Co-Working-Spaces und ein Lebensmittelmarkt sind im Quartier integriert, sodass tägliche Besorgungen zu Fuß erledigt werden können.

  • Einwohner erhalten Mobilitätsgutscheine und ein subventioniertes ÖPNV-Ticket.

Das Stadtviertel ist vollständig fußgängerfreundlich gestaltet: breite Gehwege, viel Grün, autofreie Plätze und zentrale Treffpunkte fördern Begegnungen und Bewegung. Besucher müssen außerhalb parken und zu Fuß hineingehen – ein Novum in einem Land, in dem selbst Coffee-Shops mit Drive-in-Schaltern ausgestattet sind.

Gelebte Nachbarschaft statt Vorstadteinsamkeit

Ein zentrales Element des Erfolgs von Culdesac Tempe ist die Förderung von Gemeinschaft. Der „Little Cholla Night Market“, ein regelmäßig stattfindender Nachbarschaftsmarkt mit Food Trucks, Live-Musik und lokalen Anbietern, zieht nicht nur Bewohner, sondern auch Gäste aus Tempe an. Der öffentliche Raum ist nicht nur „nice to have“, sondern das Herzstück des Quartiers.

Bewohner berichten in Interviews, dass sie mehr Kontakte zu Nachbarn haben, häufiger draußen sind und ein gesünderes, bewussteres Leben führen – nicht zuletzt durch die Reduktion der Verkehrslärm- und Abgasbelastung (Axios Phoenix, 2023).

Ein Mieter, der aus San Francisco nach Tempe gezogen ist, sagt: „Ich war skeptisch, ob ich das ohne Auto schaffe. Aber jetzt möchte ich gar nicht mehr zurück. Alles ist so nah, und ich habe endlich das Gefühl, Teil einer richtigen Gemeinschaft zu sein.“

Kritik und Herausforderungen

Natürlich ist das Projekt nicht ohne Kritik. Einige Stadtplaner bemängeln, dass es sich um ein „Gated Community“-Modell handelt, das vor allem besser verdienende, junge Bewohner anspricht. Die Mieten sind nicht niedrig, und echte soziale Durchmischung ist bislang begrenzt. Kritiker stellen außerdem die Frage, ob sich das Modell auf andere, weniger wohlhabende Städte oder Regionen übertragen lässt.

Auch die Stadt Mesa, Nachbarin von Tempe, zeigte sich zunächst skeptisch. Dort wurde ein geplantes, ähnliches Projekt abgelehnt – mit Verweis auf fehlende Parkplätze und zu hohe Dichte. Die „Angst vor Parkplatzverlust“ bleibt in vielen US-Städten ein starkes politisches Thema (CNU, 2024).

Dennoch wächst das Interesse. Städte wie Atlanta, Austin und Denver beobachten das Projekt genau. Auch in Europa wird Culdesac Tempe als Inspiration für neue urbane Modelle diskutiert.

Bedeutung für die Zukunft

In Zeiten von Klimawandel, Ressourcenknappheit und wachsender Urbanisierung ist die Frage nach einer neuen Stadtentwicklung dringender denn je. Culdesac Tempe zeigt, dass die Abkehr vom Auto nicht nur ökologisch sinnvoll, sondern auch sozial und ökonomisch attraktiv sein kann.

Das Modell lebt von einem Dreiklang: Nahversorgung, Mobilitätsalternativen und Gemeinschaftsgefühl. Und es beweist, dass es möglich ist, Lebensräume zu schaffen, in denen das Auto nicht mehr Zentrum aller Planung ist.

Die Frage ist nicht mehr, ob wir autofreie Quartiere brauchen – sondern, wie wir sie realisieren. Culdesac Tempe hat einen Anfang gemacht.


Quellenangaben

guteideen.org © 2025 by Gute Ideen ist lizenziert unter CC BY 4.0 . Kurz erklärt: Nutze alles und verlinke auf diesen Artikel. 

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