Snoezelwagen: Wenn der Raum zur Ruhe fehlt – und die Lösung auf Rollen kommt
In einer Welt, die laut, hektisch und oft überfordernd ist, sind Rückzugsorte wichtiger denn je – besonders für Kinder mit mehrfacher Behinderung. In der Heilpädagogischen Tagesschule der Stiftung visoparents in Zürich-Oerlikon ist genau das der Alltag: Kinder und Jugendliche mit komplexen Behinderungen benötigen nicht nur individuelle Lernkonzepte, sondern auch besondere Formen der Entlastung und Reizregulation. Viele sind auf spezielle Reize angewiesen, die helfen, sich zu entspannen, zu konzentrieren oder emotionale Spannungen abzubauen. Doch solche Angebote sind oft an feste Räume gebunden, die nicht immer oder überall zur Verfügung stehen.
Hier setzt eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Idee an: ein Snoezelwagen – ein mobiles Multisinnes-Angebot auf Rädern. Entwickelt wurde er von Sarah Rogalski, pädagogische Mitarbeiterin bei visoparents, im Rahmen ihrer Diplomarbeit zur Sozialpädagogin. Was zunächst als theoretisches Konzept begann, rollt seit März 2024 durch die Schulflure und bringt Entlastung in den oft herausfordernden Alltag der Schüler:innen.
Die Vision einer bedürfnisorientierten Pädagogik
Sarah Rogalski kennt den Alltag in der Heilpädagogischen Tagesschule aus erster Hand. In der täglichen Arbeit mit Kindern, die schwer mehrfachbehindert sind, wurde ihr bewusst, wie stark sich das emotionale und kognitive Erleben dieser Kinder von gängigen Vorstellungen unterscheidet. Oftmals sind kleinste Reize – ein Lichtspiel, ein Klang, eine bestimmte Haptik – entscheidend dafür, ob ein Kind sich öffnet, beruhigt oder aktiv wird. Diese Beobachtungen flossen in ihre Diplomarbeit ein, in der sie ein mobiles, flexibles Sinnesangebot konzipierte: den Snoezelwagen.
Möglich wurde die praktische Umsetzung durch einen Förderbeitrag der Stiftung visoparents, die das Projekt nicht nur finanziell, sondern auch ideell unterstützte. In enger Zusammenarbeit mit Kolleg:innen entwickelte Rogalski über mehrere Monate hinweg eine durchdachte, anpassbare Lösung, die nun festen Bestandteil des Schulalltags ist. Der Snoezelwagen kann in allen Klassenzimmern eingesetzt werden und ist innerhalb weniger Minuten betriebsbereit – inklusive Dunkelzelt, Lichtquellen, Klangobjekten, Tastmaterialien und mehr.
Was genau ist Snoezelen?
Das Wort „Snoezelen“ setzt sich aus den niederländischen Begriffen „snuffelen“ (schnuppern) und „doezelen“ (dösen) zusammen. Das Konzept wurde in den 1970er Jahren von zwei niederländischen Therapeuten entwickelt, um Menschen mit kognitiven oder sensorischen Einschränkungen eine Umgebung zu bieten, die sie stimuliert, beruhigt oder beides zugleich ermöglicht. Snoezelen umfasst multisensorische Räume, die mit Lichteffekten, beruhigender Musik, taktilen Oberflächen und oft auch aromatischen Reizen gestaltet sind. Ziel ist es, Menschen mit Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen zu fördern, zu entspannen oder ihre Kommunikation zu erleichtern (Snoezelen Stiftung).
Während ursprünglich fest installierte Snoezelräume zum Einsatz kamen, wächst inzwischen das Interesse an mobilen Lösungen – insbesondere dort, wo Platz oder Ressourcen begrenzt sind. Der Snoezelwagen bei visoparents gehört zu den ersten mobilen Umsetzungen dieser Art in der Schweiz.
Technik trifft auf Empathie: Der Aufbau des Wagens
Der Snoezelwagen von visoparents ist modular aufgebaut und lässt sich schnell und unkompliziert in jeder Umgebung einsetzen. Im Zentrum steht ein fahrbarer Korpus, in dem sich verschiedene Sinnesmaterialien befinden: LED-Leuchten, Projektoren, Textil-Elemente, Klanginstrumente, Aromadiffusoren sowie ein faltbares Dunkelzelt. Das Zelt schafft eine reizreduzierte Umgebung, in der einzelne Reize gezielt erfahrbar werden – ideal für Kinder, die schnell überstimuliert sind.
Wichtig war Rogalski dabei nicht nur die technische Umsetzung, sondern vor allem die Alltagstauglichkeit. „Der Wagen musste robust, schnell einsatzbereit und individuell anpassbar sein“, erklärt sie in einem Interview mit der Stiftung. Die Auswahl der Materialien erfolgte in enger Abstimmung mit dem pädagogischen Team, sodass sowohl Kinder mit hohem Ruhebedürfnis als auch solche mit motorischem Bewegungsdrang profitieren können.
Reale Wirkung – greifbare Veränderungen
Seit dem Einsatz des Snoezelwagens berichten Lehrer:innen und Therapeut:innen von deutlichen Veränderungen. Ein Kind mit starkem Bewegungsdrang, das bislang nur schwer in Gruppenaktivitäten integriert werden konnte, nutzt nun regelmäßig das Dunkelzelt, um sich zu regulieren. Ein anderes, nonverbales Kind zeigte nach wiederholtem Kontakt mit Lichteffekten erstmals gezielte Blickkontakte und Reaktionen auf auditive Reize.
Diese Beispiele sind keine Einzelfälle, sondern symptomatisch für den Erfolg des Projekts. Der Wagen wird täglich eingesetzt – mal für einzelne Kinder, mal im Rahmen von Gruppensituationen, beispielsweise zur Entspannung nach dem Mittagessen. „Der Wagen ist zu einem festen Bestandteil unserer pädagogischen Arbeit geworden“, sagt eine Kollegin von Rogalski. „Er ermöglicht Momente der Ruhe, Selbstwahrnehmung und Begegnung – gerade für Kinder, bei denen das sonst schwer herzustellen ist.“
Vorbild mit Strahlkraft: Weitere Einrichtungen ziehen nach
Das Konzept des mobilen Snoezelwagens findet nicht nur bei visoparents Anklang. Auch andere Einrichtungen setzen inzwischen auf ähnliche Modelle. In Mönchengladbach entwickelte der Caritasverband ein „Snoezelmobil“ für Senior:innen, das ebenfalls auf Rollen durch das Haus fährt und dort für emotionale Stabilität und sensorische Aktivierung sorgt (Caritas). In Leverkusen konnte eine Kita dank Spenden gleich zwei Snoezelwagen anschaffen – ein Angebot, das vor allem Kinder mit Sprachverzögerungen oder Aufmerksamkeitsstörungen zugutekommt (Rheinische Anzeigenblätter).
Nicht zuletzt wächst auch die Nachfrage bei Anbietern von Sonderpädagogik und Pflegeeinrichtungen, die zunehmend auf flexible multisensorische Angebote setzen. Unternehmen wie Snoezel-Plan UG bieten inzwischen standardisierte, aber auch individualisierbare Snoezelwagen für therapeutische Zwecke an (snoezel-plan.de).
Bedeutung für die Inklusionspädagogik
Der Snoezelwagen von visoparents ist mehr als nur ein pädagogisches Hilfsmittel. Er ist Ausdruck einer Haltung, die Kinder mit Behinderung nicht auf Defizite reduziert, sondern ihre Sinneswelt ernst nimmt. In einer Zeit, in der Inklusion oft auf strukturelle Maßnahmen beschränkt bleibt, setzt das Projekt ein deutliches Zeichen: Teilhabe beginnt im Alltag – mit Aufmerksamkeit, Empathie und kreativen Lösungen.
Das Projekt zeigt auch, wie innovative Ideen aus dem pädagogischen Alltag entstehen können, wenn Fachkräfte die Freiheit und Unterstützung bekommen, neue Wege zu gehen. Dass eine Diplomarbeit so schnell zu einem integralen Bestandteil der Schulstruktur wird, ist bemerkenswert – und ein ermutigendes Beispiel für die Wirkung guter Ideen in der Bildungsarbeit.
Fazit: Kleine Idee, große Wirkung
Der Snoezelwagen bei visoparents zeigt, wie durch Engagement und kreative Ideen pädagogische Innovation entstehen kann – praxisnah, nachhaltig und mit direkter Wirkung für die betroffenen Kinder. Was mit einer Beobachtung begann, hat sich in wenigen Monaten zu einem Modellprojekt entwickelt, das in seiner Einfachheit besticht und gleichzeitig weitreichende Effekte entfaltet.
Solche Projekte verdienen es, weitergetragen zu werden – nicht nur in heilpädagogischen Schulen, sondern überall dort, wo Menschen mit besonderen Bedürfnissen leben und lernen.
Quellenangaben (Harvard Style):
-
Stiftung visoparents (2024): Sinneserfahrung auf vier Rädern. Abgerufen am 10.04.2025 von https://www.visoparents.ch/2024/03/11/snoezelwagen/
-
Caritasverband Region Mönchengladbach e. V. (2023): Mobiler Sinneswagen bietet Senioren ein Plus an Lebensqualität. Abgerufen am 10.04.2025 von https://www.caritas.de/pressemitteilungen/mobiler-sinneswagen-bietet-senioren-ein-plus-an-le/2655591/
-
Snoezel Plan UG (o. J.): Snoezelwagen. Abgerufen am 10.04.2025 von https://www.snoezel-plan.de/snoezelen/snoezelwagen/
-
Rheinische Anzeigenblätter (2019): Große Freude bei der städtischen Kita Morsbroicher Straße. Abgerufen am 10.04.2025 von https://www.rheinische-anzeigenblaetter.de/leverkusen/c-nachrichten/grosse-freude-bei-der-staedtischen-kita-morsbroicher-strasse_a202964
-
Deutsche Snoezelen Stiftung (o. J.): Eine Einführung in das Konzept. Abgerufen am 10.04.2025 von https://www.snoezelen-stiftung.de/index.html
guteideen.org © 2025 by Gute Ideen ist lizenziert unter CC BY 4.0 . Kurz erklärt: Nutze alles und verlinke auf diesen Artikel.