Ein Problem, das Millionen betrifft
Pflegebedürftigkeit ist eine der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft. Sie betrifft nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch ihre Angehörigen. Viele pflegende Familienmitglieder stehen vor einer enormen Belastung, sowohl körperlich als auch emotional. Die Pflege von Menschen mit Demenz oder schweren körperlichen Einschränkungen verlangt Geduld, Kraft und oft auch kreative Lösungen. Ein Bereich, der häufig unterschätzt wird, ist die Alltagsbewältigung – beispielsweise das An- und Ausziehen von Kleidung.
Für Gisela-Elisabeth Winkler, Diplom-Mathematikerin und ehemalige Redakteurin einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift, wurde diese Herausforderung zur Lebensaufgabe. Ihr Mann litt an einer besonders schweren Form von Demenz, begleitet von Spasmen, die seinen Körper zunehmend unbeweglich machten. „Es war jedes Mal eine Tortur, ihm ein einfaches Hemd über den Kopf zu ziehen“, erzählt Winkler. „Ich hatte regelrecht Angst, ihm die Arme zu brechen.“ Sanitätshäuser und Fachgeschäfte boten keine praktikablen Lösungen. „Es fühlte sich an, als gäbe es für dieses Problem einfach keine Antwort.“ Doch Winkler beschloss, diese Antwort selbst zu entwickeln.
Von der Pflegekrise zur Geschäftsidee
2007 gründete Winkler mit 65 Jahren ihr eigenes Unternehmen – eine mutige Entscheidung, insbesondere als Rentnerin. Ihre Idee: funktionale Unterwäsche und Alltagskleidung, die speziell für Pflegebedürftige und deren Angehörige entwickelt wird. Der Fokus lag dabei auf Kleidungsstücken, die sich im Liegen leicht an- und ausziehen lassen. „Ich wollte Kleidung entwerfen, die praktisch ist und trotzdem würdevoll aussieht“, erklärt Winkler. Sie begann, Prototypen zu nähen, und testete diese direkt im Alltag mit ihrem Mann.
Die Resonanz war überwältigend. Pflegende Angehörige und Fachkräfte meldeten sich bei ihr und berichteten von ähnlichen Problemen. Das bestärkte Winkler darin, ihr Projekt weiter auszubauen. Sie gründete ihr Unternehmen als Einzelunternehmen, das sie später in eine GmbH umwandelte, um ihr Wachstum zu fördern. Heute zählt das Unternehmen, das unter dem Namen „CareWear“ bekannt ist, über 20 Mitarbeiter und arbeitet eng mit Pflegeeinrichtungen und Fachleuten zusammen.
Winklers Durchhaltevermögen zahlte sich aus: Bereits drei Jahre nach der Gründung wurde sie mit einem Innovationspreis für soziale Unternehmer ausgezeichnet. Ihre Firma erzielt mittlerweile einen Umsatz im siebenstelligen Bereich und beliefert nicht nur Privatpersonen, sondern auch Krankenhäuser und Pflegeheime in ganz Deutschland.
Lösungen, die wirklich helfen
Was macht „CareWear“ so besonders? Es ist die Verbindung aus Funktionalität und Menschlichkeit. Die Kleidungsstücke von CareWear sind aus weichen, hautfreundlichen Materialien gefertigt und verfügen über clevere Details wie Klettverschlüsse oder Druckknöpfe, die das An- und Ausziehen erleichtern. Dabei bleibt die Ästhetik nicht auf der Strecke: „Ich wollte, dass sich die Menschen trotz ihrer Einschränkungen schön fühlen können“, betont Winkler.
Besonders beliebt ist die sogenannte „Easy-Wear-Kollektion“, die Hemden und Hosen umfasst, die vollständig vorne geöffnet werden können. Auch Pflegebodys mit seitlichen Reißverschlüssen oder Nachthemden, die sich hinten öffnen lassen, sind Verkaufsschlager. Pflegekräfte berichten, dass diese Produkte den Pflegealltag erheblich erleichtern. „Was früher zehn Minuten dauerte, geht jetzt in zwei Minuten“, erzählt eine Pflegerin aus einem Berliner Seniorenheim.
Neben der Kleidung bietet CareWear auch Schulungen für Pflegepersonal und Angehörige an, um den Umgang mit pflegefreundlicher Kleidung zu optimieren. Diese ganzheitliche Herangehensweise hat sich bewährt und wird in der Branche hoch geschätzt.
Erfolgsgeschichten aus dem Alltag
Die Produkte von CareWear haben bereits in zahlreichen Fällen den Pflegealltag verändert. Eine besonders rührende Geschichte kommt aus einem Pflegeheim in Hamburg: Dort lebt die 83-jährige Helga M., die seit einem Schlaganfall halbseitig gelähmt ist. „Ich habe mich immer geschämt, wenn die Pfleger mich umziehen mussten“, erzählt sie. „Doch jetzt kann ich mich sogar ein bisschen selbst anziehen, weil die Kleidung so einfach zu handhaben ist.“ Ihre Tochter berichtet, dass die neue Kleidung ihrer Mutter das Selbstwertgefühl zurückgegeben hat.
Auch im privaten Bereich werden Winklers Produkte geschätzt. Eine junge Mutter, deren Sohn seit seiner Geburt stark körperlich eingeschränkt ist, beschreibt, wie die Kleidung ihr Leben erleichtert hat: „Früher war es eine tägliche Herausforderung, ihn umzuziehen. Jetzt geht es schnell und stressfrei – für uns beide.“
Ein Blick in die Zukunft
CareWear hat sich fest auf dem Markt etabliert und plant bereits die nächste Phase: eine Expansion ins europäische Ausland. „Die Nachfrage aus Ländern wie Österreich und der Schweiz ist groß“, sagt Winkler. Auch Kooperationen mit großen Pflegeeinrichtungen und Kliniken stehen auf der Agenda. Zudem arbeitet das Unternehmen an einer nachhaltigen Kollektion, die komplett aus recycelten Materialien gefertigt werden soll.
Für Gisela-Elisabeth Winkler ist ihr Unternehmen weit mehr als ein Job. „Es geht darum, Menschen zu helfen und ihnen ein Stück Würde zurückzugeben“, betont sie. Obwohl sie inzwischen nicht mehr im operativen Geschäft tätig ist, verfolgt sie die Entwicklung von CareWear mit Stolz. „Wenn ich sehe, wie viele Menschen wir erreichen, weiß ich, dass sich all die Mühe gelohnt hat.“
Quellen
- Sozialverband VdK Deutschland e. V. (2023): „Pflege zu Hause – eine Herausforderung für Angehörige.“ https://www.vdk.de
- Statista (2023): „Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland bis 2023.“ https://www.statista.com/statistics
- Bundesministerium für Gesundheit (2023): „Pflege in Deutschland – Zahlen und Fakten.“ https://www.bundesgesundheitsministerium.de
- Innovationspreis Soziale Unternehmen (2020): „Preisträgerin Gisela-Elisabeth Winkler.“ https://www.innovationspreis-soziales.de
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