Ein soziales Problem, das nach Antworten verlangt: Chancenpatenschaften
In Deutschland leben rund 2,8 Millionen Kinder in Armut (Bertelsmann Stiftung, 2022). Das sind fast jedes fünfte Kind. Für diese Kinder bedeutet das nicht nur materielle Entbehrung, sondern vor allem fehlende Bildungschancen, kaum soziale Teilhabe und oft ein Leben am Rande der Gesellschaft. Ihre Startbedingungen ins Leben sind schlechter: Sie haben weniger Zugang zu Förderung, zu kulturellen Angeboten und vor allem zu vertrauensvollen Erwachsenen, die sie unterstützen. Die Folgen ziehen sich oft bis ins Erwachsenenalter: Schulabbrüche, Arbeitslosigkeit, und ein Kreislauf, der sich von Generation zu Generation wiederholt.
Eine ähnliche Geschichte erzählt Ibrahim, heute 17 Jahre alt und in Berlin lebend. Als Kind von Geflüchteten wuchs er in beengten Wohnverhältnissen auf, seine Eltern kämpften mit Sprachbarrieren und finanziellen Sorgen. „In der Schule hatte ich Schwierigkeiten, mitzuhalten, und zu Hause konnte mir niemand helfen. Ich dachte, ich sei allein.“ Ibrahim ist kein Einzelfall. Laut aktuellen Studien sind gerade Kinder aus benachteiligten Familien in der Schule oft auf sich gestellt – es fehlt an individueller Förderung, die Lehrer können das nicht alleine auffangen (DeStatis, 2021).
Hier setzt das Ashoka Fellow-Projekt „Chancenpatenschaften“ an. Es geht darum, Kindern und Jugendlichen, die in schwierigen Verhältnissen leben, eine wertvolle Ressource zur Seite zu stellen: Ein engagierter Pate oder eine Patin, die sie auf ihrem Weg begleitet, unterstützt und ermutigt.
Das Projekt Chancenpatenschaften: Eine Brücke zu besseren Lebenswegen
Das Programm Chancenpatenschaften wurde von Ashoka Fellow Katrin Elsemann ins Leben gerufen. Ashoka, eine international agierende Organisation zur Förderung von Sozialunternehmern, unterstützt Menschen, die innovative Lösungen für gesellschaftliche Probleme entwickeln. Katrin Elsemann erkannte früh, dass der Schlüssel zur Verbesserung der Lebenschancen benachteiligter Kinder in persönlichen Beziehungen liegt.
Das Projekt arbeitet nach einem einfachen Prinzip: Es bringt Ehrenamtliche, die bereit sind, Zeit und Engagement zu investieren, mit Kindern und Jugendlichen zusammen. Die Patenschaften sind individuell gestaltet: Ein Pate hilft zum Beispiel bei den Hausaufgaben, besucht mit dem Patenkind Museen oder Sportvereine, spricht über Zukunftsperspektiven oder ist einfach da, um zuzuhören.
Die Rechtsform des Projekts ist ein gemeinnütziger Verein, der deutschlandweit agiert. Seit der Gründung im Jahr 2016 ist das Programm kontinuierlich gewachsen: Mittlerweile gibt es über 5.000 aktive Patenschaften in verschiedenen Bundesländern. Die Finanzierung erfolgt über private Spenden, Unternehmenspartnerschaften und staatliche Fördermittel. Ein Netzwerk von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen koordiniert das Programm.
Die Wirkung des Projekts ist beeindruckend: Studien haben gezeigt, dass Kinder mit Mentoren nicht nur besser in der Schule abschneiden, sondern auch mehr Selbstbewusstsein entwickeln (Ashoka, 2023). So auch bei Ibrahim: Sein Pate half ihm nicht nur bei Matheaufgaben, sondern zeigte ihm Wege auf, wie er seine Ziele erreichen kann. Heute hat Ibrahim einen Ausbildungsplatz in der IT-Branche und sagt: „Ohne meinen Paten hätte ich nie daran geglaubt, dass ich das schaffen kann.“
Erfolgreiche Umsetzung durch menschliche Verbindungen
Ein Schlüssel zum Erfolg des Projekts liegt in der besonderen Herangehensweise: Chancenpatenschaften bauen auf Vertrauen, Längerfristigkeit und Freiwilligkeit. Katrin Elsemann betont: „Es geht nicht um schnelle Hilfe, sondern um Beziehungen, die tragen. Ein Pate muss nicht perfekt sein, sondern einfach verlässlich.“
Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist die Geschichte von Sophia und ihrer Patin Sabine. Sophia, ein Mädchen aus einer Großstadt, hatte wegen familiärer Probleme die Schule oft geschwänzt. Sabine, eine pensionierte Lehrerin, nahm sie unter ihre Fittiche. Sie trafen sich regelmäßig, Sabine half Sophia, Lernrückstände aufzuholen, und motivierte sie. Heute hat Sophia ihren Schulabschluss in der Tasche. Solche Erfolgsgeschichten gibt es viele: Sie zeigen, dass einzelne Menschen große Veränderungen bewirken können, wenn sie sich engagieren.
Ein weiteres Erfolgsgeheimnis ist die professionelle Begleitung der Patenschaften. Vor Beginn einer Patenschaft erhalten die Paten Schulungen, um sie auf ihre Rolle vorzubereiten. Sie lernen, wie sie Unterstützung geben, ohne zu überfordern, und wie sie in schwierigen Situationen reagieren. Während der gesamten Patenschaft stehen Ansprechpartner zur Verfügung, die bei Fragen helfen und Konflikte lösen können.
Ein gesellschaftliches Umdenken: Warum Chancenpatenschaften wichtig sind
Das Projekt Chancenpatenschaften zeigt, dass es Möglichkeiten gibt, dem Kreislauf der sozialen Benachteiligung zu entkommen – und zwar durch menschliche Beziehungen. Es geht darum, Brücken zu bauen zwischen Menschen, die in verschiedenen Lebenswelten leben. Kinder aus schwierigen Verhältnissen bekommen Zugang zu Wissen, Ressourcen und Perspektiven, die sonst oft unerreichbar bleiben.
Langfristig profitiert die gesamte Gesellschaft von solchen Programmen. Mehr Bildung bedeutet weniger Arbeitslosigkeit, geringere Sozialausgaben und eine stabilere Wirtschaft. Vor allem aber bedeutet es, dass junge Menschen wie Ibrahim und Sophia ihre Potenziale entfalten und ihre Träume verwirklichen können.
Ein Blick in die Zukunft
Das Chancenpatenschafts-Projekt hat bereits bewiesen, dass es funktioniert. Aber der Bedarf ist riesig. Katrin Elsemann und ihr Team wollen das Programm weiter ausbauen und noch mehr Menschen erreichen. Hierfür sind sie auf finanzielle Unterstützung, aber auch auf ehrenamtliches Engagement angewiesen. „Jeder kann Pate werden“, sagt Elsemann. „Es braucht keine besonderen Qualifikationen, sondern einfach den Wunsch, etwas zu bewegen.“
Für Ibrahim, Sophia und tausende andere Kinder haben die Patenschaften die Welt verändert. Vielleicht ist das die größte Erkenntnis: Manchmal genügt ein Mensch, der an jemanden glaubt, um einen Unterschied zu machen.
Quellen
Bertelsmann Stiftung (2022). Kinderarmut in Deutschland. Verfügbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2022/august/kinderarmut-in-deutschland
DeStatis (2021). Bildungschancen benachteiligter Kinder. Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung/bildungschancen.html
Ashoka (2023). Chancenpatenschaften – Wirkung und Erfolge. Verfügbar unter: https://www.ashoka.org/de-de/programme/chancenpatenschaften
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2023). Ehrenamtliche Patenschaften in Deutschland. Verfügbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/kinder-und-jugend/ehrenamtliche-patenschaften
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