In einer Welt, die zunehmend von Individualismus und digitaler Kommunikation geprägt ist, bleibt eine wachsende Bevölkerungsgruppe oft unsichtbar: ältere Menschen. Sie sind besonders von sozialer Isolation und Einsamkeit betroffen. Mitra Kassai, Musik- und Kulturmanagerin aus Hamburg, hat dieses Problem erkannt und eine einzigartige Lösung geschaffen. Mit ihrem gemeinnützigen Verein „Oll Inklusiv“ bringt sie Senioren zurück ins Leben, fördert kulturelle Teilhabe und zeigt, wie Engagement Barrieren abbauen kann. Doch wie entstand dieses Projekt, und warum ist es so bedeutsam?
Das Problem der Alterseinsamkeit ist in Deutschland seit Jahren ein wachsendes Thema. Studien zufolge lebt fast die Hälfte der über 75-Jährigen allein, und rund 20 Prozent der über 70-Jährigen geben an, sich regelmäßig einsam zu fühlen (Deutsches Zentrum für Altersfragen, 2022). Die Gründe dafür sind vielfältig: Der Verlust des Partners oder enger Freunde, ein schrumpfendes soziales Netzwerk und die nachlassende Mobilität erschweren den Alltag. Gleichzeitig sorgt die zunehmende Digitalisierung dafür, dass viele ältere Menschen den Anschluss an moderne Kommunikationsmittel verlieren. Das Ergebnis ist eine soziale Isolation, die nicht nur psychische, sondern auch körperliche Folgen hat. Einsamkeit wird in Studien mit einem erhöhten Risiko für Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und eine geringere Lebenserwartung in Verbindung gebracht (Holt-Lunstad et al., 2015).
Die Folgen dieser Entwicklung sind nicht nur für die Betroffenen selbst gravierend, sondern auch für die Gesellschaft. Einsame ältere Menschen suchen häufiger medizinische Hilfe, was die Gesundheitssysteme belastet. Darüber hinaus geht durch die Isolation eine wertvolle Ressource verloren: die Erfahrung und Weisheit einer ganzen Generation. Hier setzt Mitra Kassai mit ihrem Projekt an.
Die Entstehung von „Oll Inklusiv“
Mitra Kassai wurde in München geboren und zog später nach Hamburg, wo sie als Musik- und Kulturmanagerin tätig ist. Sie erkannte früh, dass kulturelle Angebote oft auf jüngere Zielgruppen ausgerichtet sind, während ältere Menschen kaum berücksichtigt werden. Ihre Idee, „Oll Inklusiv“ zu gründen, entstand 2018, als sie eine Tanzveranstaltung für Senioren im Hamburger Mojo Club organisierte. Die Resonanz war überwältigend: Hunderte Teilnehmer kamen, um gemeinsam zu tanzen, zu lachen und Kontakte zu knüpfen. Kassai wurde klar, dass ein enormer Bedarf an solchen Angeboten besteht.
Noch im selben Jahr gründete sie den gemeinnützigen Verein „Oll Inklusiv“. Der Name ist Programm: „Oll“ steht für das norddeutsche Wort für „alt“, und „Inklusiv“ betont die Offenheit und Zugänglichkeit des Projekts. Mit ihrem Team, das aus rund 40 Ehrenamtlichen besteht, organisiert sie seitdem regelmäßig Veranstaltungen für Menschen über 60. Diese reichen von Tanznachmittagen über Ausflüge und Konzerte bis hin zu digitalen Workshops, in denen Senioren den Umgang mit Smartphones und sozialen Medien lernen.
Der Verein hat sich seit seiner Gründung stark entwickelt. Er ist als eingetragener Verein strukturiert und finanziert sich über Spenden, Fördergelder und gelegentliche Kooperationen mit lokalen Unternehmen. Das Team arbeitet mit großer Leidenschaft daran, dass jedes Angebot barrierefrei und kostenlos bleibt, um möglichst vielen Menschen Zugang zu ermöglichen. „Oll Inklusiv“ hat seinen Sitz in Hamburg, erreicht aber mit digitalen Formaten und bundesweiten Kooperationen auch Menschen außerhalb der Hansestadt.
Erfolgreiche Umsetzung und inspirierende Geschichten
Die Veranstaltungen von „Oll Inklusiv“ sind echte Erlebnisse. Besonders beliebt sind die Tanznachmittage im Mojo Club, bei denen Mitra Kassai oft selbst als DJ auflegt. Hier treffen sich regelmäßig bis zu 150 Senioren, um zu den Klängen ihrer Jugend zu tanzen. Die Atmosphäre ist ausgelassen, die Gäste sind dankbar für die Möglichkeit, wieder Teil einer Gemeinschaft zu sein. Kassai berichtet, dass viele Teilnehmer betonen, wie sehr solche Angebote ihr Leben bereichern.
Eine bewegende Geschichte ist die von Bärbel, einer 73-jährigen Hamburgerin, die nach dem Tod ihres Mannes den Kontakt zur Außenwelt verloren hatte. Durch eine Freundin erfuhr sie von „Oll Inklusiv“ und nahm an einem Tanznachmittag teil. Bärbel beschreibt, dass dieser Tag ihr Leben veränderte: „Ich habe wieder Freude gefunden und Menschen, die mich verstehen.“ Heute gehört sie zu den aktivsten Mitgliedern des Vereins und engagiert sich selbst, um anderen Menschen diese Erfahrung zu ermöglichen.
Ein weiteres Beispiel für den Erfolg von „Oll Inklusiv“ ist die Kooperation mit dem Wacken Open Air. 2019 plante der Verein, eine Gruppe von Senioren zu diesem legendären Metal-Festival zu bringen. Obwohl der Ausflug wetterbedingt verschoben werden musste, zeigt die Aktion, wie kreativ und mutig Kassai und ihr Team an die Sache herangehen. Der geplante Besuch sorgte für große Begeisterung und machte deutlich, dass Kultur keine Altersgrenze kennt.
Mitmenschlichkeit und kulturelle Teilhabe als Schlüssel
Der Erfolg von „Oll Inklusiv“ zeigt, wie wichtig Mitmenschlichkeit und kulturelle Teilhabe sind. Kassai betont, dass es oft die kleinen Gesten sind, die den größten Unterschied machen. Dazu gehört nicht nur das Organisieren großer Veranstaltungen, sondern auch die persönliche Ansprache, das Ernstnehmen der Bedürfnisse und das Schaffen von Gelegenheiten, bei denen ältere Menschen sich wertgeschätzt fühlen.
Das Projekt lebt von der Idee, dass jede Generation einen Beitrag zur Gesellschaft leisten kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Es geht darum, die Perspektiven zu wechseln und Räume zu schaffen, in denen alle Menschen, unabhängig von ihrem Alter, willkommen sind. Diese Haltung zeigt sich nicht nur in den Veranstaltungen selbst, sondern auch in der Arbeit des Teams, das mit großem Respekt und Herzblut hinter dem Projekt steht.
Auszeichnungen und Anerkennung
Das Engagement von Mitra Kassai und ihrem Verein blieb nicht unbeachtet. 2024 wurde sie mit der „Goldenen Bild der Frau“ ausgezeichnet, einem Preis, der Menschen ehrt, die sich in besonderer Weise ehrenamtlich engagieren. Die Jury hob hervor, wie nachhaltig und wirkungsvoll „Oll Inklusiv“ das Leben vieler Menschen verändert. Diese Anerkennung hat Kassai dazu inspiriert, das Projekt weiter auszubauen und neue Ideen umzusetzen.
Auch in der Öffentlichkeit ist „Oll Inklusiv“ mittlerweile gut bekannt. Die Medien berichten regelmäßig über die innovativen Ansätze des Vereins, und immer mehr Menschen interessieren sich für die Angebote. Kassai sieht dies als Bestätigung für die Bedeutung ihres Projekts und als Motivation, weiterzumachen.
Fazit
„Oll Inklusiv“ ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie Engagement und Kreativität gesellschaftliche Probleme angehen können. Mitra Kassai und ihr Team zeigen, dass es möglich ist, Menschen zusammenzubringen, Barrieren abzubauen und Lebensfreude zu schenken. Die Arbeit des Vereins erinnert uns daran, dass kulturelle Teilhabe und Mitmenschlichkeit essenziell sind – nicht nur für ältere Menschen, sondern für die gesamte Gesellschaft.
Es bleibt zu hoffen, dass Projekte wie „Oll Inklusiv“ Schule machen und sich ähnliche Initiativen in anderen Städten entwickeln. Denn die Welt gehört allen, unabhängig vom Alter.
Quellen
Deutsches Zentrum für Altersfragen (2022) Alterseinsamkeit in Deutschland: Daten und Fakten. Verfügbar unter: https://www.dza.de/altersstudien (Zugriff: 14. Dezember 2024).
Holt-Lunstad, J., Smith, T.B. und Layton, J.B. (2015) ‘Social relationships and mortality risk: A meta-analytic review’, PLoS Medicine, 7(7), S. 1–20. Verfügbar unter: https://journals.plos.org/plosmedicine (Zugriff: 14. Dezember 2024).
Oll Inklusiv (o.J.) Unsere Mission. Verfügbar unter: https://www.oll-inklusiv.de (Zugriff: 14. Dezember 2024).
59plus (2019) Mitra Kassai: Die Welt gehört allen. Verfügbar unter: https://www.59plus.de/mitra-kassai-die-welt-gehoert-allen (Zugriff: 14. Dezember 2024).
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