Landwirtschaft statt Rasenflächen – das Experiment einer Stadt, die ihre Bewohner zum Anbau verpflichtet
Inmitten der grünen Weiten der niederländischen Polderlandschaft liegt Oosterwold, ein Vorort von Almere, der ein Experiment wagt, das in Europa seinesgleichen sucht. Hier müssen die Bewohner mindestens 50 % ihres Grundstücks für den Anbau von Lebensmitteln nutzen – eine ungewöhnliche, aber faszinierende Regelung, die sowohl urbane als auch landwirtschaftliche Prinzipien miteinander verschmelzen lässt. Diese Vision von Nachhaltigkeit, Gemeinschaft und lokaler Ernährungssicherheit zeigt, wie Städte der Zukunft aussehen könnten – und welche Herausforderungen mit einem solchen Vorhaben verbunden sind.
Das Problem: Städte ohne Lebensmittelanbau
In den letzten Jahrzehnten haben sich Städte weltweit von ihrer agrarischen Herkunft entfernt. Wo früher Nutzgärten die Straßen säumten, dominieren heute Asphalt, Beton und sterile Rasenflächen. Diese Urbanisierung geht nicht nur auf Kosten der Biodiversität, sondern erhöht auch die Abhängigkeit von globalisierten Lieferketten, die durch den Klimawandel und geopolitische Krisen immer anfälliger werden. Städte konsumieren riesige Mengen an Lebensmitteln, produzieren jedoch kaum welche. Gleichzeitig steigt das Bewusstsein für den Wert lokaler Lebensmittelversorgung und nachhaltigen Anbaus. Doch wie lässt sich dieser Trend umkehren, wenn urbane Flächen rar und teuer sind?
Oosterwold bietet eine radikale Antwort. Hier wird die Verantwortung für den Anbau von Lebensmitteln direkt auf die Schultern der Bewohner übertragen. Kein zentralisiertes System, kein Großprojekt eines einzelnen Entwicklers – vielmehr ein Netzwerk aus hunderten kleinen landwirtschaftlichen Projekten, die von den Menschen vor Ort gestaltet werden. Doch wie funktioniert das in der Praxis?
Die Lösung: Ein städtebauliches Experiment namens Oosterwold
Oosterwold ist ein geplantes Wohngebiet, das auf einem bahnbrechenden Konzept basiert: Die Bewohner erwerben Grundstücke mit der Verpflichtung, mindestens 50 % ihres Landes landwirtschaftlich zu nutzen. Dieses Prinzip wurde 2012 von der Stadt Almere und der niederländischen Regierung ins Leben gerufen. Ziel war es, nachhaltige Wohnformen zu fördern, die ökologische Landwirtschaft und urbanes Leben miteinander verbinden.
Das Gebiet umfasst rund 4.300 Hektar und bietet Platz für etwa 15.000 Haushalte. Die Grundidee ist, dass die Bewohner nicht nur für ihre eigenen Häuser, sondern auch für die Infrastruktur verantwortlich sind – von Straßen bis hin zu Wasserleitungen. Diese dezentrale Struktur verleiht den Menschen eine ungewohnte Eigenverantwortung und erlaubt maximale Flexibilität, allerdings auch mit Herausforderungen.
Die rechtliche Grundlage von Oosterwold basiert auf einer besonderen Form des Landkaufs: Die Käufer verpflichten sich, die landwirtschaftliche Nutzung in ihren Bauplänen umzusetzen. Wer diese Verpflichtung nicht erfüllt, riskiert Vertragsstrafen. Doch der Großteil der Bewohner sieht dies weniger als Einschränkung, sondern als Chance.
Wer steckt dahinter? Die Macher und ihre Vision
Das Konzept von Oosterwold wurde maßgeblich von einer Koalition aus der Gemeinde Almere und der niederländischen Regierung entwickelt, unterstützt durch Architekten, Stadtplaner und lokale Initiativen. Die zentrale Kooperative „Urbane Landwirtschaft Oosterwold“ (Coöperatie Stadslandbouw Oosterwold) spielt eine Schlüsselrolle: Sie bietet Beratung, Netzwerke und Unterstützung für die Bewohner, die oft wenig Erfahrung in der Landwirtschaft mitbringen.
Ein Paradebeispiel für erfolgreiche Projekte in Oosterwold ist die „Boerderij Vliervelden“. Gegründet von einer Gruppe engagierter Landwirte und Anwohner, vereint der Hof biologischen Anbau mit einem Selbstpflück-Garten und einem kleinen Supermarkt. Hier können Bewohner nicht nur frisches Obst und Gemüse ernten, sondern auch Workshops besuchen und mehr über ökologische Landwirtschaft lernen.
Die Boerderij Vliervelden ist nicht allein: Zahlreiche weitere Initiativen haben sich etabliert. Von Hühnerfarmen über Imkereien bis hin zu Gemeinschaftsgärten zeigt sich die Vielfalt der Projekte. Was sie alle verbindet, ist die Vision, Nachhaltigkeit praktisch umzusetzen und zugleich ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen.
Herausforderungen und Erfolge: Was funktioniert – und was nicht?
Oosterwold hat bewiesen, dass das Konzept eines urbanen Landwirtschaftsgebiets funktionieren kann, wenn auch nicht ohne Hürden. Ein häufig genanntes Problem ist die fehlende Erfahrung vieler Bewohner. Während einige mit großem Enthusiasmus starten, fühlen sich andere von den Anforderungen überfordert. Es fehlt oft an Know-how, Zeit und Ressourcen, um die landwirtschaftlichen Verpflichtungen zu erfüllen.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die Infrastruktur. Da diese von den Bewohnern selbst organisiert wird, gibt es in einigen Teilen von Oosterwold Engpässe bei Straßen oder der Abwasserentsorgung. Auch die Kosten für die Erschließung wurden von einigen als höher eingeschätzt als erwartet. Dennoch zeigt sich, dass der Gemeinschaftsgedanke diese Herausforderungen oft überwindet. Bewohner schließen sich zusammen, um gemeinsam Lösungen zu finden, sei es beim Straßenbau oder bei der Einrichtung eines Bewässerungssystems.
Die Erfolge von Oosterwold sind beeindruckend: Studien zeigen, dass das Projekt die lokale Lebensmittelproduktion erheblich gesteigert hat. Gleichzeitig wurde der ökologische Fußabdruck durch die kurzen Transportwege reduziert. Die Bewohner berichten von einer intensiven Verbindung zu ihrer Umgebung und einer neu entdeckten Wertschätzung für den Anbau von Lebensmitteln.
Was bedeutet Oosterwold für die Zukunft?
Das Beispiel Oosterwold könnte Modellcharakter für andere Städte haben, die ebenfalls nach nachhaltigen Lösungen für die wachsenden Herausforderungen von Urbanisierung und Klimawandel suchen. Das Projekt zeigt, dass urbane Landwirtschaft nicht nur machbar, sondern auch ein effektiver Weg ist, Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und Ernährungssicherheit zu fördern.
Gleichzeitig wirft es die Frage auf, wie Städte in Zukunft geplant werden sollten. Können solche Modelle in anderen Regionen repliziert werden? Wie lassen sich ähnliche Projekte an die jeweiligen kulturellen und geografischen Gegebenheiten anpassen? Oosterwold liefert keine fertigen Antworten, aber einen faszinierenden Ausgangspunkt für die Diskussion.
Quellenangaben
Gemeente Almere (2023). Oosterwold: The City of the Future. Verfügbar unter: https://www.almere.nl/oosterwold
Boerderij Vliervelden (2023). Community Farming in Oosterwold. Verfügbar unter: https://www.vliervelden.nl
Stichting Stadslandbouw (2023). Urbane Landwirtschaft in den Niederlanden. Verfügbar unter: https://www.stadslandbouw.nl
Nationale Omgevingsvisie (2022). Nachhaltige Stadtentwicklung. Verfügbar unter: https://www.noov.nl
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