Der Helm, der wächst: Wie Myzelium die urbane Mobilität revolutionieren kann

Sicherheit auf zwei Rädern: Ein ungelöstes Problem

Fahrrad- und Roller-Sharing-Systeme haben die Art und Weise, wie wir uns in Städten fortbewegen, grundlegend verändert. Sie sind flexibel, günstig und umweltfreundlich. Doch bei aller Begeisterung für diese alternativen Mobilitätsformen bleibt ein gravierendes Problem ungelöst: die Sicherheit der Nutzer. Studien zeigen, dass das Verletzungsrisiko bei Unfällen auf diesen Fahrzeugen deutlich erhöht ist, wenn kein Helm getragen wird. Dennoch ist der Zugang zu Schutzausrüstung oft unzureichend.

Viele Sharing-Anbieter stellen keine Helme zur Verfügung, und selbst wenn, werden diese aus hygienischen Gründen nur selten genutzt. Dazu kommt, dass Helme oft unpraktisch in der Anschaffung sind, besonders für Gelegenheitsnutzer. Aber das Problem endet nicht bei der Nutzung: Herkömmliche Helme bestehen in der Regel aus expandiertem Polystyrol (EPS), einem nicht biologisch abbaubaren Material. Nach durchschnittlich fünf bis sieben Jahren Nutzungsdauer landen sie auf Mülldeponien und tragen erheblich zur Umweltverschmutzung bei.

Diese Kombination aus Sicherheitsdefizit und Umweltschädigung wirft die Frage auf: Kann es eine Lösung geben, die beiden Problemen gerecht wird?

Eine revolutionäre Idee: Der „Grow It Yourself“-Helm

Im Jahr 2021 stellte das mexikanische Designstudio NOS eine beeindruckende Innovation vor: den „Grow It Yourself“-Helm. Dieser Fahrradhelm, der aus Myzelium – dem Wurzelsystem von Pilzen – hergestellt wird, ist nicht nur vollständig biologisch abbaubar, sondern auch leicht und stoßdämpfend. Damit bietet er eine nachhaltige und sichere Alternative zu herkömmlichen Helmen.

Wie entstand die Idee?

Die Vision hinter dem Projekt entstand aus der Notwendigkeit, temporäre Schutzausrüstung für die wachsenden alternativen Mobilitätssysteme bereitzustellen. NOS, ein Designstudio aus Mexiko-Stadt mit Fokus auf nachhaltige Lösungen, erkannte das Problem der Sicherheitslücken bei Fahrrad- und Roller-Sharing-Angeboten. In Zusammenarbeit mit Polybion, einem Biotech-Unternehmen, das auf die Entwicklung von Myzel-basierten Materialien spezialisiert ist, entstand der Helm. Polybion hatte bereits mit einem Material namens Fungicel experimentiert, das Eigenschaften wie die Dämpfung von EPS-Schaum nachahmt, aber komplett biologisch abbaubar ist.

„Die Idee war nicht nur, einen Helm zu entwickeln, sondern ein Produkt, das sich nahtlos in den natürlichen Kreislauf einfügt“, erklärt Paola Calderón, Mitgründerin von NOS. „Wir wollten eine Lösung schaffen, die zeigt, wie Design und Biotechnologie zusammenarbeiten können, um reale Probleme anzugehen.“

Was macht den Helm so besonders?

Der „Grow It Yourself“-Helm besticht durch mehrere innovative Eigenschaften:

  1. Material: Das Myzelium wird in einer Form gezüchtet, die die gewünschte Helmstruktur ergibt. Während des Wachstumsprozesses verbindet es sich zu einer stabilen, stoßabsorbierenden Masse. Sobald der Helm seine Form erreicht hat, wird er getrocknet, um das Wachstum zu stoppen und die Haltbarkeit zu gewährleisten.
  2. Kompostierbarkeit: Im Gegensatz zu herkömmlichen Helmen, die aus Kunststoff bestehen und Jahrhunderte brauchen, um sich zu zersetzen, kann der Myzelium-Helm in wenigen Wochen kompostiert werden. Nach Ablauf seiner Nutzungsdauer wird er einfach in die Erde gegeben, wo er zu Nährstoffen für Pflanzen wird.
  3. Leichtgewicht: Trotz seiner nachhaltigen Zusammensetzung ist der Helm leicht und bietet denselben Tragekomfort wie herkömmliche Modelle.
  4. Modularität: Der Helm wurde ursprünglich für Kinder entwickelt, kann aber durch Anpassungen auch von Erwachsenen genutzt werden. Die Zielgruppe umfasst vor allem Gelegenheitsnutzer von Sharing-Angeboten, die auf der Suche nach einer praktischen, aber sicheren Lösung sind.

Vom Konzept zur Realität

Nach der Markteinführung sorgte der Helm international für Aufmerksamkeit. Besonders in Kreisen, die sich mit nachhaltigem Design und urbaner Mobilität beschäftigen, wurde er gefeiert. Doch der Weg von der Idee zur Umsetzung war keineswegs einfach.

Die Gründer von NOS mussten zunächst die Akzeptanz für ein Produkt gewinnen, das aus einem vergleichsweise unkonventionellen Material besteht. „Viele Menschen waren skeptisch, ob ein Pilzhelm wirklich sicher sein kann“, erinnert sich Calderón. Doch Tests zeigten, dass der Helm den Sicherheitsstandards für Fahrradhelme entspricht.

Eine weitere Herausforderung war die Skalierbarkeit. Während das Material an sich kostengünstig und umweltfreundlich ist, erfordert der Wachstumsprozess Zeit und spezielle Bedingungen. NOS arbeitet jedoch kontinuierlich daran, den Produktionsprozess effizienter zu gestalten. Ziel ist es, den Helm auch in größeren Stückzahlen für Sharing-Anbieter und Privatpersonen anzubieten.

Erfolgsgeschichten: Der Helm in der Praxis

In einer Pilotphase wurde der „Grow It Yourself“-Helm in mehreren Städten getestet, darunter Mexiko-Stadt, Berlin und Kopenhagen. In Berlin stellte ein Fahrradverleih den Helm kostenlos zur Verfügung, um seine Nutzung zu fördern. Die Rückmeldungen waren durchweg positiv. Nutzer lobten nicht nur den Tragekomfort, sondern auch das gute Gefühl, ein umweltfreundliches Produkt zu verwenden.

Eine Anekdote verdeutlicht die Wirkung des Projekts: In Kopenhagen organisierte eine Grundschule eine Fahrradaktion, bei der Kindern die Bedeutung von Sicherheit im Straßenverkehr nähergebracht wurde. Die Schüler trugen die Helme von NOS und lernten dabei auch, wie diese hergestellt werden. „Es war beeindruckend zu sehen, wie die Kinder den Helm fast als etwas Lebendiges wahrgenommen haben“, erzählt ein Lehrer.

Ein weiteres Beispiel stammt aus Mexiko-Stadt, wo die Helme bei einem großen Umweltfestival präsentiert wurden. Besucher konnten sehen, wie die Helme wachsen, und erfuhren mehr über die Vorteile von Myzelium als Material.

Blick in die Zukunft: Ein Modell für nachhaltiges Design

Der „Grow It Yourself“-Helm ist mehr als nur ein Produkt – er ist ein Symbol für eine neue Herangehensweise an Design und Produktion. Er zeigt, wie durch die Kombination von Biotechnologie und kreativem Denken Lösungen entstehen können, die sowohl den Menschen als auch der Umwelt zugutekommen.

Die Gründer von NOS planen, das Konzept auf weitere Produkte auszudehnen. „Wir sehen großes Potenzial in der Anwendung von Myzelium für andere Bereiche, etwa Möbel oder Verpackungen“, sagt Calderón.

Auch auf politischer Ebene hat das Projekt Aufmerksamkeit erregt. In Mexiko-Stadt wird diskutiert, ob Sharing-Anbieter dazu verpflichtet werden sollen, nachhaltige Helme bereitzustellen. Ein solcher Schritt könnte die Akzeptanz von Produkten wie dem Myzelium-Helm weiter fördern.

Fazit: Sicherheit und Nachhaltigkeit in Harmonie

Der „Grow It Yourself“-Helm ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie innovative Ansätze reale Probleme lösen können. Er adressiert sowohl die Sicherheitslücken im urbanen Verkehr als auch die Umweltprobleme, die durch konventionelle Materialien entstehen. Gleichzeitig bietet er eine Vision für eine Zukunft, in der Design und Natur im Einklang stehen.

Mit Projekten wie diesem zeigt NOS, dass es möglich ist, kreative Lösungen für komplexe Herausforderungen zu entwickeln. Es bleibt abzuwarten, wie sich der Helm weiterentwickelt und ob er tatsächlich zum Standard für alternative Mobilitätssysteme wird. Eines ist jedoch sicher: Der Weg zu einer nachhaltigeren Welt beginnt oft mit einem kleinen, aber bedeutenden Schritt – oder, in diesem Fall, mit einem Helm aus Pilzen.


Quellen

 

guteideen.org © 2024 by Gute Ideen ist lizenziert unter CC BY 4.0 . Kurz erklärt: Nutze alles und verlinke auf diesen Artikel.

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