„Ich zahl‘ für zwei“ – Solidarität auf dem Teller: Ein Modellprojekt aus Gießen

In Gießen, der lebendigen Universitätsstadt mitten in Hessen, ist ein soziales Experiment gestartet, das für Aufmerksamkeit sorgt. Unter dem Titel „Ich zahl‘ für zwei“ wurde ein Projekt ins Leben gerufen, das auf Solidarität, Gemeinschaft und Menschlichkeit setzt. Die Initiative bietet eine einfache Möglichkeit, um Menschen in Not eine Mahlzeit oder ein Getränk zu ermöglichen. Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher hat sich mit lokalen Gastronomen und dem Freiwilligenzentrum zusammengetan, um diese Idee umzusetzen – ein Beispiel dafür, wie soziales Engagement auf lokaler Ebene zu realen Veränderungen führen kann.

Ein Problem, das viele betrifft: Unsichtbarer Hunger

Gießen steht exemplarisch für viele Städte in Deutschland, in denen das Problem des „unsichtbaren Hungers“ existiert. Trotz einer Vielzahl von Sozialprogrammen und Hilfsangeboten kämpfen viele Menschen – Obdachlose, Geringverdiener, Alleinerziehende, Senioren oder auch Studierende – mit finanziellen Engpässen, die es schwierig machen, sich eine regelmäßige warme Mahlzeit zu leisten. Oft bleibt der Hunger verborgen, weil Betroffene sich schämen, um Hilfe zu bitten.

Diese Situation hat sich durch die steigenden Lebenshaltungskosten und die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie weiter verschärft. Gleichzeitig bleibt oft eine Lücke zwischen Hilfsangeboten und tatsächlicher Unterstützung. Viele Menschen fallen durch das soziale Netz, sei es aus bürokratischen Gründen oder wegen persönlicher Barrieren. Es braucht also niedrigschwellige, pragmatische Ansätze, die dort ansetzen, wo die Bedürftigen sind – in ihrem Alltag.

Die Geburtsstunde von „Ich zahl‘ für zwei“

Angesichts dieser Herausforderungen entstand im Büro von Gießens Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher die Idee für „Ich zahl‘ für zwei“. Becher, der seit Dezember 2021 das Amt des Oberbürgermeisters innehat, ist bekannt für seine soziale Agenda und den Einsatz für eine gerechtere Gesellschaft. Mit Unterstützung des Freiwilligenzentrums Gießen und in enger Zusammenarbeit mit Gastronomen wurde das Projekt entwickelt und Ende November 2024 offiziell gestartet.

Das Konzept ist inspiriert von einer italienischen Tradition: dem „Caffè sospeso“ (aufgeschobener Kaffee). In Italien zahlen Gäste in Cafés gelegentlich einen zusätzlichen Kaffee, der für einen späteren Gast bestimmt ist, der sich diesen nicht leisten kann. Becher und sein Team übernahmen diesen Gedanken und passten ihn an die Bedürfnisse Gießens an.

Die Rechtsform des Projekts ist nicht als Verein oder Stiftung organisiert, sondern funktioniert als freiwillige Kooperation zwischen der Stadtverwaltung, den Gastronomen und dem Freiwilligenzentrum. Diese flexible Struktur ermöglicht es, die Aktion unbürokratisch umzusetzen.

Wie funktioniert das Konzept?

Die Idee hinter „Ich zahl‘ für zwei“ ist denkbar einfach: Gäste in teilnehmenden Restaurants, Cafés und Bistros können beim Bezahlen ihrer eigenen Rechnung einen zusätzlichen Betrag hinterlegen – sei es für eine Suppe, ein Getränk oder eine Hauptmahlzeit. Dieser Betrag wird dann als Guthaben notiert und ermöglicht es einer anderen Person, kostenfrei eine Mahlzeit oder ein Getränk zu erhalten.

Die teilnehmenden Betriebe sind mit einem Aufkleber gekennzeichnet, der auf die Aktion aufmerksam macht. Bedürftige können ohne Nachweis oder Rechtfertigung von dem Angebot Gebrauch machen. Dieses Prinzip basiert auf Vertrauen – sowohl seitens der Gastronomen als auch der Gäste.

„Es ist eine einfache Geste mit großer Wirkung“, sagt Becher. „Wir schaffen hier nicht nur eine konkrete Hilfe für Menschen in schwierigen Situationen, sondern fördern auch den Gemeinschaftssinn in unserer Stadt.“

Erste Erfolge und positive Resonanz

Bereits in den ersten Tagen nach dem Start konnte das Projekt Erfolge verbuchen. Gastronomen wie Bayram Dalkilic, Betreiber eines Streetfood-Wagens in der Innenstadt, berichten von einer positiven Resonanz. „Etwa ein Dutzend Kunden haben in den ersten Tagen eine Suppe doppelt bezahlt“, erzählt er. „Ich kenne die Tradition des Teilens aus meiner Heimat Türkei und freue mich, dass ich das hier weitergeben kann. Niemand sollte hungrig bleiben.“

Ein weiteres Beispiel ist ein beliebtes Café in der Nähe des Bahnhofs. Hier hat sich die Aktion schnell herumgesprochen, und die ersten Bedürftigen haben bereits Mahlzeiten in Anspruch genommen. Der Betreiber des Cafés betont, dass die Aktion auch für ihn als Gastronom eine Bereicherung ist: „Es tut gut zu sehen, wie Menschen hier nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere bezahlen. Es schafft eine besondere Atmosphäre.“

Auch bei den Gästen stößt die Initiative auf Zuspruch. Eine Kundin berichtet, dass sie „endlich eine Möglichkeit gefunden habe, direkt vor Ort etwas Gutes zu tun, ohne groß nachzudenken“. Dieses niederschwellige Angebot zeigt, wie unkompliziert Solidarität sein kann.

Herausforderungen und Lösungen

Natürlich ist ein solches Projekt nicht ohne Herausforderungen. Einige Kritiker äußern Bedenken, dass das System ausgenutzt werden könnte. Doch die Initiatoren sehen dies gelassen. „Selbst wenn jemand das Angebot nutzt, der es vielleicht nicht dringend nötig hat, ist das kein Problem“, sagt Becher. „Wichtig ist, dass wir insgesamt mehr geben als nehmen.“

Ein weiteres Problem ist die langfristige Finanzierung. Obwohl das Projekt derzeit auf Spendenbereitschaft und die Eigeninitiative der Gäste setzt, könnte eine breitere finanzielle Basis hilfreich sein. Hier kommen mögliche Kooperationen mit lokalen Unternehmen ins Spiel, die das Projekt unterstützen könnten, um seine Nachhaltigkeit zu sichern.

Der gesellschaftliche Wert von „Ich zahl‘ für zwei“

Das Besondere an der Initiative ist nicht nur die unmittelbare Hilfe, sondern auch die Botschaft, die sie vermittelt. „Ich zahl‘ für zwei“ zeigt, dass Solidarität nicht kompliziert oder teuer sein muss. Eine kleine Geste kann einen großen Unterschied machen, und jeder kann auf seine Weise beitragen – sei es mit einer zusätzlichen Suppe oder einer Tasse Kaffee.

Die Aktion sensibilisiert auch für die Lebensrealitäten anderer Menschen. Viele Teilnehmer berichten, dass sie durch das Projekt erstmals bewusster über Armut und soziale Ungleichheit in ihrer eigenen Stadt nachdenken. In einer Zeit, in der gesellschaftliche Spaltungen zunehmen, setzt „Ich zahl‘ für zwei“ ein Zeichen der Verbundenheit und Menschlichkeit.

Blick in die Zukunft: Ein Modell für andere Städte?

„Ich zahl‘ für zwei“ könnte nicht nur ein Erfolgsmodell für Gießen bleiben, sondern auch andere Städte inspirieren. Ähnliche Projekte gibt es bereits in Ansätzen, doch die strukturierte Zusammenarbeit zwischen Stadtverwaltung, Gastronomen und zivilgesellschaftlichen Akteuren macht das Gießener Modell besonders. Oberbürgermeister Becher hofft, dass die Aktion Schule macht: „Wir haben gezeigt, wie einfach es sein kann, etwas zu verändern. Warum sollte das nicht auch anderswo funktionieren?“

Für die nächsten Monate ist geplant, weitere Gastronomen für die Teilnahme zu gewinnen und die Aktion breiter zu bewerben. Auch die Einbindung von Schulen und Vereinen könnte das Projekt weiter stärken.

Fazit: Ein Schritt zu mehr Miteinander

„Ich zahl‘ für zwei“ ist ein Beispiel dafür, wie soziale Probleme mit kreativen und pragmatischen Lösungen angegangen werden können. Es zeigt, dass Veränderung nicht immer von großen Institutionen oder teuren Programmen ausgehen muss. Oft reicht eine gute Idee und der Wille zur Zusammenarbeit.

In einer Gesellschaft, die zunehmend von Individualismus geprägt ist, setzt Gießen ein Zeichen für Solidarität. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Modellprojekt viele Nachahmer findet – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.


Quellenangaben

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