Die Herausforderung: Barrierefreiheit als Wohnungs-Mangelware
Anne ist 29 Jahre alt und voller Vorfreude auf ihre erste eigene Wohnung. Doch der Weg dorthin war für sie und ihre Familie steiniger, als es hätte sein müssen. Denn Anne sitzt im Rollstuhl, und der Markt für barrierefreie Wohnungen ist in Deutschland, insbesondere in kleineren Städten, extrem überschaubar.
Die Suche nach einer passenden Wohnung entwickelte sich schnell zur Zerreißprobe. Barrierefreie Wohnungen sind rar und häufig teuer. Selbst Neubauprojekte erfüllen oft nur die minimalen gesetzlichen Vorgaben zur Barrierefreiheit. Das bedeutet Rampen am Eingang, aber keine bodengleichen Duschen, zu schmale Türen oder Küchen, die für Rollstuhlfahrer ungeeignet sind. Laut einer Studie der Aktion Mensch fehlen in Deutschland mehrere hunderttausend barrierefreie Wohnungen, Tendenz steigend. Das betrifft nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern auch Senioren, deren Mobilität mit zunehmendem Alter eingeschränkt ist.
Die Immobilienbranche zeigt sich oft wenig flexibel: Anpassungen an bestehenden Wohnungen sind kostspielig und von Vermietern selten gewünscht. Der soziale Wohnungsbau, einst Garant für inklusives Wohnen, ist vielerorts zum Stillstand gekommen. Für Menschen wie Anne wird die Suche nach einem geeigneten Zuhause damit zu einem echten Problem.
https://www.ardmediathek.de/video/das-ding-mit-dem-wohnen-anders-zuhause/anne-zieht-aus/mdr/Y3JpZDovL21kci5kZS9zZW5kdW5nLzI4MjA0MS8yMDI0MTAyNjE4MDAvbWRycGx1cy1zZW5kdW5nLTg5NTY?_mdrviafb_241118_1756
Die Lösung: Eine Genossenschaft wird geboren
Annes Familie entschied, nicht länger auf eine Lösung zu warten. Gemeinsam mit anderen betroffenen Familien und Unterstützern gründeten sie 2021 eine Wohnungsgenossenschaft mit dem Ziel, barrierefreien und bezahlbaren Wohnraum selbst zu schaffen. Die Idee: Anstatt auf den bestehenden Markt angewiesen zu sein, bauen sie ihr eigenes Wohnprojekt, das nicht nur barrierefrei, sondern auch gemeinschaftlich gestaltet ist.
Die Genossenschaft wurde als eingetragene Genossenschaft (eG) ins Leben gerufen, eine Rechtsform, die besonders gut zu ihrem Anliegen passt. Genossenschaften folgen dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“. Alle Mitglieder der Gemeinschaft sind gleichzeitig Eigentümer, Mieter und Mitentscheider. Dies fördert nicht nur die Solidarität, sondern schafft auch finanzielle Sicherheit und Transparenz. Jedes Mitglied erwirbt Anteile an der Genossenschaft, wodurch die Baufinanzierung auf viele Schultern verteilt wird.
An der Spitze der Genossenschaft stehen Annes Eltern, Claudia und Thomas, die beide als Initiatoren maßgeblich zur Entstehung beitrugen. Claudia, eine Sozialarbeiterin mit Erfahrung in inklusiven Projekten, brachte ihre Fachkenntnis ein. Thomas, ein Ingenieur, kümmerte sich um die bautechnischen Herausforderungen. Unterstützt wurden sie von einem kleinen Kreis weiterer Gründungsmitglieder, darunter Familien, Architekten und Juristen. Innerhalb weniger Monate war die Genossenschaft offiziell registriert, und die Planungen für das erste Bauprojekt konnten beginnen.
Die Vision der Genossenschaft geht jedoch über Annes persönliche Situation hinaus. Ihr Ziel ist es, langfristig barrierefreien Wohnraum für Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen zu schaffen – ob mit körperlichen Einschränkungen, im Seniorenalter oder für junge Familien.
Vom Traum zur Realität: Erfolgreiche Umsetzung eines Wohnprojekts
Das erste große Projekt der Genossenschaft ist ein barrierefreies Mehrfamilienhaus mit zehn Wohnungen, das derzeit am Stadtrand entsteht. Der Bau ist nicht nur funktional, sondern auch ein architektonisches Vorzeigeprojekt. Die Wohnungen sind großzügig geschnitten, verfügen über rollstuhlgerechte Küchen und Badezimmer sowie breite Türen und Flure. Das gesamte Haus ist mit einem Aufzug ausgestattet, der von der Tiefgarage bis ins oberste Stockwerk reicht.
Die Finanzierung des Projekts erfolgte durch eine Kombination aus den Genossenschaftsanteilen der Mitglieder, Fördergeldern der Stadt und einem zinsgünstigen Kredit der KfW-Bank. Zudem half eine Crowdfunding-Kampagne, zusätzliche Mittel für die Innenausstattung zu sammeln. Besonders wichtig war den Gründern, dass die Wohnungen bezahlbar bleiben. Dank der genossenschaftlichen Struktur zahlen die Bewohner nur eine geringe monatliche Nutzungsgebühr anstatt einer marktüblichen Miete.
Eine der besonderen Herausforderungen war es, die Bedürfnisse der zukünftigen Bewohner in die Planung zu integrieren. In mehreren Workshops hatten alle Mitglieder die Möglichkeit, ihre Wünsche und Ideen einzubringen. So entstand nicht nur Wohnraum, sondern auch eine Gemeinschaft: ein gemeinsamer Garten, ein Gemeinschaftsraum und Räume für Unterstützungsangebote, etwa Physiotherapie oder Hausnotrufdienste.
Claudia erinnert sich an eine entscheidende Anekdote: „Einer unserer zukünftigen Nachbarn, ein älterer Herr im Rollstuhl, meinte: ‚Ich will nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Leute um mich, die mich verstehen.‘ Genau das versuchen wir hier zu schaffen.“
Barrierefreiheit als Gemeinschaftsaufgabe
Die Bauphase des Projekts ist in vollem Gange, und die Fertigstellung ist für Mitte 2025 geplant. Doch der Erfolg der Genossenschaft zeigt sich nicht nur in den Bauplänen. Bereits jetzt hat sie Aufmerksamkeit in der Region erregt und dient anderen Initiativen als Vorbild. Die Genossenschaft arbeitet eng mit lokalen Architekten, Handwerksbetrieben und sozialen Einrichtungen zusammen, um die Umsetzung so nachhaltig und inklusiv wie möglich zu gestalten.
Besonders hervorzuheben ist die Zusammenarbeit mit der örtlichen Volkshochschule, die barrierefreie Schulungen für Handwerker anbietet. Ein weiteres Highlight ist die Kooperation mit einer Stiftung, die für den Gemeinschaftsraum einen Rollstuhlfahrsimulator zur Verfügung stellt, um Verständnis für die Herausforderungen der Bewohner zu fördern.
Die Zukunft der Genossenschaft
Nach der Fertigstellung des ersten Hauses plant die Genossenschaft bereits weitere Projekte. Ziel ist es, barrierefreie Wohnprojekte in verschiedenen Stadtteilen und auch in ländlichen Gebieten umzusetzen. Der Erfolg des ersten Projekts dient dabei als Blaupause.
„Wir träumen von einer Stadt, in der niemand wegen seiner Einschränkungen auf eine passende Wohnung verzichten muss“, sagt Thomas. „Aber wir wissen auch, dass das nur Schritt für Schritt geht.“
Die Genossenschaft setzt auf langfristige Planung und nachhaltige Entwicklung. Neben dem Bau weiterer Häuser stehen auch Renovierungen von Altbauten auf der Agenda. Darüber hinaus möchten die Gründer stärker mit anderen Genossenschaften und sozialen Trägern vernetzt arbeiten, um gemeinsam noch größere Projekte umzusetzen.
Fazit
Die Geschichte von Anne und der von ihrer Familie gegründeten Genossenschaft zeigt, dass Engagement und Gemeinschaftsgeist große Herausforderungen bewältigen können. Barrierefreier Wohnraum bleibt eine der dringendsten sozialen Aufgaben unserer Zeit. Die Genossenschaft bietet nicht nur Anne, sondern vielen anderen Menschen eine Perspektive – und zeigt, wie Bürger Eigeninitiative ergreifen können, um Lücken zu schließen, die Politik und Markt allein nicht füllen.
Quellenangaben
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Aktion Mensch. (o.D.). Studie: Barrierefreie Wohnungen in Deutschland. Abgerufen von https://www.aktion-mensch.de
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KfW Bankengruppe. (o.D.). Förderprogramme für barrierefreies Bauen. Abgerufen von https://www.kfw.de
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Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband (DGRV). (2023). Vorteile von Genossenschaften. Abgerufen von https://www.dgrv.de
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Stadt München. (o.D.). Barrierefreier Wohnungsbau: Herausforderungen und Lösungen. Abgerufen von https://www.muenchen.de
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