OrCam, die mit intelligente Brille: Wie Technologie das Leben Sehbehinderter revolutioniert

Ein plötzliches Schicksal: Blindheit als Herausforderung

Für viele Menschen ist Sehen eine Selbstverständlichkeit. Doch für etwa 1,2 Millionen blinde Menschen in Deutschland ist es eine tägliche Herausforderung. Einer von ihnen ist der 49-jährige Seyit Yakar, der im Alter von 15 Jahren durch eine Netzhautablösung fast vollständig erblindete. Von einem Tag auf den anderen war seine Welt nur noch ein grauer Schleier. Ärzte und Behörden bescheinigten ihm, dass ein Abschluss an einer Regelschule mit seiner Sehbehinderung unmöglich sei. Doch Seyit ließ sich nicht entmutigen: „Wenn man mir sagt, ich kann etwas nicht, dann will ich das Gegenteil beweisen.“

Mit einem bemerkenswerten Willen erlangte er sein Abitur, absolvierte eine Ausbildung als Hotelfachmann und machte Karriere in der gehobenen Gastronomie. Er lernte, seine Sehbehinderung zu verbergen, und perfektionierte das Hören und Fühlen, um etwa Gläser auf Reinheit zu prüfen oder Tische blind einzudecken. Doch das Versteckspiel war belastend. Es führte ihn in eine tiefe Depression und eine Suchterkrankung. Erst durch die Reflexion seiner Lebensgeschichte, die er in einem Buch und später in einem Film festhielt, konnte er neue Perspektiven entwickeln.

Heute ist Seyit nicht nur ein Kämpfer, sondern auch ein Vorbild. Sein Leben symbolisiert, dass Blindheit nicht das Ende bedeutet. Doch wie viel leichter wäre sein Weg gewesen, wenn er von Anfang an technische Unterstützung gehabt hätte?

Technologie als Lebensretter: Die Entwicklung der OrCam

Hier kommt die OrCam ins Spiel, ein kleines, bahnbrechendes Gerät aus Israel, das blinden und sehbehinderten Menschen neue Möglichkeiten eröffnet. Mit einer Länge von nur 7,6 cm und einem Gewicht von 22 Gramm bietet die OrCam modernste Technologie in kompakter Form. Entwickelt von dem Unternehmen OrCam Technologies, das 2010 von den israelischen Ingenieuren Amnon Shashua und Ziv Aviram gegründet wurde, verfolgt das Unternehmen ein ambitioniertes Ziel: Sehbehinderten ihre Unabhängigkeit zurückzugeben.

Die OrCam MyEye ist eine kleine Kamera, die an Brillen befestigt werden kann. Sie liest Texte von jeder Oberfläche vor, erkennt Gesichter und Farben, entschlüsselt Barcodes und hilft Nutzern, alltägliche Aufgaben wie Einkaufen oder das Lesen von Fahrplänen zu bewältigen. Besonders beeindruckend: Alle Datenverarbeitungen finden offline statt, was höchste Privatsphäre garantiert. Nutzer benötigen weder Internetzugang noch Cloud-Dienste, um von der Technologie zu profitieren.

Ein Projekt mit großem Erfolgspotenzial

Die OrCam wurde speziell für Blinde und hochgradig Sehbehinderte entwickelt und hat weltweit bereits Tausenden Menschen geholfen. Besonders in Deutschland erfreut sich das Gerät wachsender Beliebtheit. Es wird mittlerweile von zehn Anbietern verkauft, und mehr als 100 Beratungsstellen bieten Informationen und Schulungen an. Die Krankenkassen übernehmen je nach Schwere der Behinderung bis zu 100 % der Kosten, die bei etwa 4.200 Euro liegen.

Das Gerät hat nicht nur technische, sondern auch emotionale Auswirkungen. Viele blinde Menschen erleben beim ersten Gebrauch eine Mischung aus Unglauben und Erleichterung. „Ein blinder Mensch, der zum ersten Mal mit der OrCam lesen kann, ist ein unglaublich bewegender Moment“, sagt ein Sprecher von OrCam. „Manche brechen in Tränen aus, weil sie realisieren, wie viel einfacher ihr Leben ab jetzt sein wird.“

Seyit Yakar ist einer der vielen Nutzer, die von der OrCam begeistert sind. „Es ist ein Hilfsmittel, das ich heraushole, wenn ich nicht weiterkomme. Es liest Busfahrpläne, erkennt Geldscheine und Barcodes im Supermarkt. Das gibt mir ein Stück Freiheit zurück, das ich nie für möglich gehalten hätte.“

Die Schattenseiten: Grenzen der Technologie

Trotz der beeindruckenden Fortschritte hat die OrCam auch ihre Grenzen. Sie kann die verlorene Sehkraft nicht zurückbringen und bleibt ein Hilfsmittel, das den Alltag erleichtert, aber nicht alle Herausforderungen löst. Zudem sind die Kosten von über 4.000 Euro eine erhebliche Hürde, insbesondere für Menschen, die nicht auf eine volle Kostenübernahme durch die Krankenkassen hoffen können.

Auch der Wartungsaufwand ist nicht unerheblich: Nach 24 Monaten erlischt die Garantie, und Reparaturen müssen aus eigener Tasche bezahlt werden. Dennoch sieht die Mehrheit der Nutzer in der OrCam eine Investition, die sich lohnt, weil sie eine neue Lebensqualität ermöglicht.

Der Weg in die Zukunft

Die OrCam ist ein Meilenstein in der Unterstützung sehbehinderter Menschen, aber sie steht noch am Anfang ihrer Entwicklung. Die Gründer des Unternehmens arbeiten bereits an weiteren Verbesserungen, um die Technologie noch zugänglicher und leistungsfähiger zu machen. Experten prognostizieren, dass in den kommenden Jahren ähnliche Geräte entstehen könnten, die noch mehr Funktionen bieten und eventuell sogar erschwinglicher werden.

Für Seyit Yakar und Millionen andere Betroffene bedeutet die OrCam ein Stück Normalität in einer Welt, die oft für Sehende gestaltet ist. „Ich glaube, die Technologie hat enormes Potenzial. Sie gibt uns etwas zurück, das wir verloren haben: die Fähigkeit, selbstständig zu sein“, sagt Seyit.

Die OrCam zeigt eindrucksvoll, wie innovative Technologien nicht nur den Alltag erleichtern, sondern auch Hoffnung geben können. Sie ist ein Beispiel dafür, wie menschlicher Erfindergeist dazu beitragen kann, Barrieren abzubauen und eine inklusivere Gesellschaft zu schaffen.


Quellen

  1. OrCam Technologies. (n.d.). OrCam MyEye. https://www.orcam.com
  2. Bundesvereinigung der Senioren-Organisationen (BAGSO). (2022). Hilfsmittel für Sehbehinderte. https://www.bagso.de
  3. Der Spiegel. (2023). Wie die OrCam das Leben blinder Menschen verändert. https://www.spiegel.de
  4. Süddeutsche Zeitung. (2023). Barrierefreie Technologien im Alltag. https://www.sueddeutsche.de

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