Das Problem: Unwissenheit und Vorurteile gegenüber jüdischem Leben in Deutschland
In Deutschland leben etwa 118.000 Jüdinnen und Juden, doch viele Menschen hierzulande kennen keinen von ihnen persönlich. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2017 zeigt, dass antisemitische Stereotype und Vorurteile häufig auf Unwissenheit und mangelnde persönliche Kontakte zurückzuführen sind. So gaben 41 Prozent der Befragten an, nicht zu wissen, wie Jüdinnen und Juden ihren Alltag gestalten. Diese Lücke im Verständnis führt oft dazu, dass jüdisches Leben als etwas Fremdes wahrgenommen wird, geprägt von Klischees und überholten Bildern.
Die Auswirkungen dieser Unwissenheit sind gravierend: Neben einem subtilen Alltagsantisemitismus zeigen offizielle Statistiken der Polizei, dass antisemitische Straftaten in Deutschland seit Jahren auf einem hohen Niveau bleiben. Dies betrifft nicht nur Schmierereien an Synagogen oder Hassbotschaften in sozialen Netzwerken, sondern auch physische Angriffe. Die Täter agieren dabei häufig aus einem fundierten Unverständnis für das Judentum und seine kulturellen, religiösen und sozialen Facetten. Eine Lösung scheint dringend geboten – doch wie bringt man Menschen dazu, sich mit einem Thema auseinanderzusetzen, das sie kaum berührt?
Die Lösung: Begegnungen auf Augenhöhe mit „Meet a Jew“
Eine bemerkenswerte Initiative, die genau hier ansetzt, ist das bundesweite Projekt „Meet a Jew“. Getragen vom Zentralrat der Juden in Deutschland und mit Sitz in Berlin verfolgt es ein klares Ziel: den persönlichen Dialog zwischen Jüdinnen und Juden und der Mehrheitsgesellschaft zu fördern. Seit der Gründung im Jahr 2020 setzt das Projekt auf eine einfache, aber äußerst wirkungsvolle Idee: Ehrenamtliche jüdische Jugendliche und Erwachsene besuchen Schulen, Universitäten, Vereine oder andere Institutionen, um direkte Begegnungen zu ermöglichen.
Der Clou: Diese Treffen sind keine Lehrveranstaltungen über jüdische Geschichte oder Religion, sondern lockere Gespräche, die von den Erfahrungen und Perspektiven der Ehrenamtlichen geprägt sind. Die Freiwilligen – im Alter von 14 bis über 80 Jahren – berichten über ihren Alltag, ihre Hobbys und ihre persönliche Identität. Dabei bleibt Raum für Fragen, die in anderen Kontexten oft unausgesprochen bleiben. Warum tragen manche jüdischen Männer eine Kippa? Was bedeutet koscher essen? Oder schlicht: Wie fühlt es sich an, in Deutschland jüdisch zu sein?
Wer steckt dahinter?
„Meet a Jew“ wurde von engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Zentralrats der Juden ins Leben gerufen, inspiriert von ähnlichen Initiativen aus den USA und Großbritannien. Als gemeinnütziges Projekt agiert es unter dem Dach einer großen Organisation, bleibt jedoch in seiner Struktur bewusst klein und flexibel. Mit derzeit rund 350 aktiven Ehrenamtlichen, die regelmäßig geschult und begleitet werden, hat „Meet a Jew“ seit seiner Gründung bereits Tausende Begegnungen organisiert.
Die Finanzierung erfolgt überwiegend aus Mitteln des Zentralrats sowie aus Spenden und staatlichen Fördergeldern. Diese Unterstützung ist essenziell, um die Reisen der Ehrenamtlichen zu finanzieren, Schulungsmaterialien bereitzustellen und die organisatorischen Abläufe zu koordinieren.
Ein wichtiger Aspekt des Projekts ist die sorgfältige Auswahl und Vorbereitung der Ehrenamtlichen. Vor ihrem ersten Einsatz nehmen sie an Workshops teil, die sie auf mögliche Herausforderungen vorbereiten – von schwierigen Fragen bis hin zu sensiblen Themen wie Antisemitismus.
Erfolgsgeschichten: Wie Dialog echte Veränderungen bewirkt
Die Wirkung von „Meet a Jew“ zeigt sich in unzähligen positiven Rückmeldungen von Lehrkräften, Teilnehmenden und den Ehrenamtlichen selbst. Ein Lehrer einer Berliner Gesamtschule berichtete beispielsweise, dass seine Schüler nach einem Besuch von „Meet a Jew“ erstmals Fragen zu Judentum und Antisemitismus gestellt hätten, die sie zuvor nie gewagt hätten zu äußern. „Die Begegnung hat eine Brücke gebaut, die im Unterricht allein nicht möglich gewesen wäre“, so sein Fazit.
Eine Ehrenamtliche erinnert sich an eine besonders eindrückliche Begegnung mit einer Schulklasse in Bayern. Nach ihrem Vortrag meldete sich ein Schüler zu Wort, der zugab, bisher ausschließlich negative Dinge über Jüdinnen und Juden gehört zu haben. „Nach diesem Gespräch sehe ich das ganz anders“, sagte er. Solche Momente zeigen, wie stark der direkte Dialog bestehende Vorurteile hinterfragen und auflösen kann.
Ein weiteres Beispiel stammt aus einem Sportverein in Nordrhein-Westfalen, wo eine Gruppe jüdischer und nicht-jüdischer Jugendlicher nach einem Workshop beschloss, gemeinsam ein interkulturelles Fußballturnier zu organisieren. Das Projekt ist ein lebendiges Zeichen dafür, wie aus Begegnungen langfristige Partnerschaften entstehen können.
Auch die Zahlen sprechen für sich: Laut internen Erhebungen des Zentralrats geben über 80 Prozent der Teilnehmenden an, nach einer Veranstaltung ein differenzierteres Bild vom jüdischen Leben in Deutschland zu haben. Dies ist ein bemerkenswerter Erfolg, der zeigt, wie viel Potenzial in persönlichen Begegnungen liegt.
Ein Ausblick: Warum Projekte wie „Meet a Jew“ heute wichtiger denn je sind
In einer Zeit, in der Polarisierung und Misstrauen zunehmend den gesellschaftlichen Diskurs prägen, bietet „Meet a Jew“ einen Hoffnungsschimmer. Die Begegnungen schaffen nicht nur Verständnis, sondern stärken auch das Bewusstsein für die Bedeutung von Vielfalt und Respekt. Gleichzeitig bleibt noch viel zu tun: Trotz des Erfolgs hat das Projekt bislang nur einen Bruchteil der potenziellen Zielgruppen erreicht. Mit Blick auf die Zukunft plant das Team, die Reichweite weiter auszubauen – etwa durch Online-Formate oder Kooperationen mit Unternehmen.
Doch der Kern bleibt unverändert: der Glaube daran, dass ein persönliches Gespräch mehr bewirken kann als tausend Worte auf Papier.
Fazit
„Meet a Jew“ ist mehr als ein Projekt – es ist ein Impuls für ein besseres Miteinander in einer Gesellschaft, die häufig von Unwissenheit und Missverständnissen geprägt ist. Mit seiner klaren Ausrichtung auf Dialog und persönlichem Austausch zeigt es, dass Vorurteile kein unveränderliches Schicksal sind, sondern überwunden werden können. Es ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie jede Begegnung ein kleines Stück Veränderung bewirken kann.
Quellenangaben
- Zentralrat der Juden in Deutschland. (2024). Meet a Jew – Offizielle Webseite. Verfügbar unter: https://www.meetajew.de
- Bertelsmann Stiftung. (2017). Religionsmonitor: Antisemitismus in Deutschland. Verfügbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de
- Bundesministerium des Innern und für Heimat. (2023). Statistik antisemitischer Straftaten in Deutschland 2022. Verfügbar unter: https://www.bmi.bund.de
- Interview mit einem Vertreter von „Meet a Jew“, Januar 2024.
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