Eine Welt im Wandel – und das Verschwinden der rollenden Bibliotheken
Es ist ein Bild, das an Nostalgie und Romantik grenzt: ein Bücherbus, der sich seinen Weg durch abgelegene Dörfer bahnt, um Menschen Zugang zu Wissen, Geschichten und Bildung zu bieten. Doch diese rollenden Bibliotheken, einst essenziell für ländliche Regionen, sind vom Aussterben bedroht. Digitale Medien und Haushaltskürzungen haben viele dieser mobilen Bibliotheken verschwinden lassen. Nur noch wenige Städte und Landkreise in Deutschland halten an diesem Konzept fest – unter ihnen der Kreis Steinburg in Schleswig-Holstein. Dort fährt der Bücherbus seit Jahrzehnten unermüdlich durch die Region. Ramona Schütt, die seit 1992 hinter dem Steuer sitzt, verkörpert nicht nur den Geist dieser Institution, sondern auch deren Kampf ums Überleben.
Warum Bücherbusse so wichtig sind
Für viele Kinder und Erwachsene auf dem Land ist der Bücherbus die einzige Möglichkeit, regelmäßig an Lesestoff zu kommen. Gerade in ländlichen Regionen wie Schleswig-Holstein ist das Netz stationärer Bibliotheken ausgedünnt. Hinzu kommen oft eingeschränkte Mobilitätsmöglichkeiten: Ältere Menschen, Familien ohne Auto oder Kinder, die keine öffentliche Verkehrsanbindung haben, können Bibliotheken in der nächsten Stadt oft nicht erreichen. Der Bücherbus schließt diese Lücke.
Doch das Problem ist größer als reine Logistik. Es geht um Bildungsgerechtigkeit. Studien belegen, dass Kinder aus einkommensschwachen Familien oder bildungsfernen Haushalten oft weniger Zugang zu Büchern haben, was ihre schulischen Leistungen und späteren Chancen beeinflusst (Bertelsmann Stiftung, 2023). Der Bücherbus macht Leseförderung greifbar, indem er direkt zu den Menschen fährt und den Zugang zu Literatur barrierefrei gestaltet.
Aber der Bücherbus hat auch einen kulturellen und sozialen Wert. „Es geht nicht nur um Bücher“, sagt Schütt. „Wir sind ein Treffpunkt, ein Ort der Begegnung. Menschen kommen zusammen, um zu stöbern, zu reden oder einfach mal rauszukommen.“ Mit der fortschreitenden Digitalisierung scheint jedoch der Wert solcher Angebote zu schwinden – zumindest aus Sicht vieler Entscheider.
Die Geburtsstunde eines rollenden Klassikers
Der Bücherbus in Steinburg wurde 1979 ins Leben gerufen. Initiiert wurde das Projekt von der Stadtbücherei Itzehoe, um die ländlichen Gemeinden besser mit Büchern und Medien zu versorgen. Zu Beginn war es ein Experiment: Würden die Menschen das Angebot annehmen? Schnell wurde klar, dass die Nachfrage groß war. Binnen weniger Jahre wuchs der Bestand von einigen Hundert Büchern auf mehrere Tausend an.
Ramona Schütt stieß 1992 zum Team. Eigentlich wollte sie nie Busfahrerin werden. „Ich habe Bibliothekswesen studiert“, erzählt sie. „Als die Stelle ausgeschrieben wurde, dachte ich: Warum nicht? Es klang nach einem Abenteuer.“ Das Abenteuer wurde schnell zur Berufung. Heute ist Schütt nicht nur Fahrerin, sondern auch Bibliothekarin, Ansprechpartnerin und Seelsorgerin in einer Person. Der Bus ist mehr als ein Arbeitsplatz – er ist ein Lebenswerk.
Organisatorisch ist der Bücherbus dem Kreis Steinburg unterstellt, wird aber in enger Zusammenarbeit mit der Stadtbücherei Itzehoe betrieben. Finanziert wird das Projekt über öffentliche Mittel und gelegentliche Fördergelder. Der Bus selbst ist ein Unikat: Eine Spezialanfertigung, die mit Regalen, Sitzgelegenheiten und moderner Technik ausgestattet ist. Alle paar Jahre wird das Fahrzeug generalüberholt, um weiterhin zuverlässig seinen Dienst leisten zu können.
Erfolgsgeschichten aus dem Bücherbus
Es sind die kleinen Geschichten, die den Erfolg des Bücherbusses messbar machen. Da ist zum Beispiel Finn, ein Junge aus einer kleinen Gemeinde, der vor Jahren kaum lesen konnte. „Seine Mutter kam auf mich zu und erzählte, dass Finn Probleme in der Schule hat“, erinnert sich Schütt. Sie stellte ihm gezielt Bücher zusammen, die seine Interessen trafen – Dinosaurier und Abenteuer. Heute liest Finn flüssig und besucht regelmäßig die Stadtbücherei.
Oder die ältere Dame aus einem Dorf, die dem Bücherbus jahrelang die Treue gehalten hat. „Als sie krank wurde und nicht mehr zum Bus kommen konnte, haben wir ihr die Bücher nach Hause gebracht“, erzählt Schütt. Solche Geschichten sind für sie keine Ausnahme, sondern Alltag.
Der Erfolg des Projekts zeigt sich auch in Zahlen: Jährlich verzeichnet der Bücherbus rund 25.000 Ausleihen, bei einer Flotte von etwa 5.000 Medien. Das sind beeindruckende Zahlen, wenn man bedenkt, dass der Bus nur an fünf Tagen die Woche unterwegs ist und regelmäßig bis zu 60 Haltestellen anfährt.
Die Herausforderungen der Zukunft
Trotz aller Erfolgsgeschichten steht der Bücherbus vor großen Herausforderungen. Finanzielle Kürzungen bedrohen das Projekt immer wieder. „Wir müssen jedes Jahr kämpfen, um unser Budget zu sichern“, sagt Schütt. Hinzu kommt der technische Verschleiß: Der aktuelle Bus ist bereits über 20 Jahre alt. Ein neues Fahrzeug würde mehrere Hunderttausend Euro kosten – Geld, das oft fehlt.
Ein weiteres Problem ist die Konkurrenz durch digitale Angebote. Immer mehr Menschen lesen E-Books oder nutzen Online-Bibliotheken. Doch Schütt sieht darin keine Gefahr, sondern eine Chance. „Wir haben unsere Services erweitert und bieten auch E-Books und Hörbücher an. Der Bücherbus ist kein Relikt der Vergangenheit – wir passen uns an.“
Die größte Herausforderung bleibt jedoch der gesellschaftliche Wandel. In einer Zeit, in der öffentliche Mittel oft in andere Bereiche fließen, ist es schwer, für kulturelle Projekte wie den Bücherbus Unterstützung zu finden. Doch Schütt bleibt optimistisch: „Solange ich hinter dem Steuer sitze, wird dieser Bus fahren.“
Ein Modell für andere Regionen?
Der Bücherbus in Steinburg ist kein Einzelfall, aber ein Vorbild. Ähnliche Projekte gibt es in anderen Teilen Deutschlands, etwa in Niedersachsen und Bayern. Doch nicht alle sind so erfolgreich. Viele mobile Bibliotheken wurden aufgrund mangelnder Nachfrage oder Finanzierung eingestellt. Warum also funktioniert das Modell in Steinburg? „Weil wir den Kontakt zu den Menschen suchen“, erklärt Schütt. „Wir sind nicht nur eine rollende Bibliothek, wir sind ein Teil der Gemeinschaft.“
Die Verantwortlichen in Steinburg setzen zudem auf Innovation. Neben Büchern bietet der Bus auch Tablets und Internetzugang an. „Es geht nicht darum, gegen den Fortschritt zu kämpfen“, sagt Schütt. „Es geht darum, ihn für unsere Zwecke zu nutzen.“
Fazit: Ein Lebenswerk auf Rädern
Der Bücherbus von Ramona Schütt ist mehr als ein Transportmittel für Bücher – er ist ein Symbol für Bildung, Gemeinschaft und Durchhaltevermögen. In einer Welt, die sich immer schneller dreht, erinnert uns dieser Bus daran, dass Fortschritt nicht nur digital sein muss. Manchmal braucht es nur vier Räder und eine engagierte Fahrerin, um die Welt ein bisschen besser zu machen.
Quellen
- Bertelsmann Stiftung (2023). Bildungsgerechtigkeit in Deutschland. Verfügbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de
- Stadtbücherei Itzehoe (2024). Der Bücherbus in Steinburg. Verfügbar unter: https://www.stadtbuecherei-itzehoe.de
- Verband der Bibliotheken (2023). Mobile Bibliotheken in Deutschland. Verfügbar unter: https://www.bibliotheksverband.de
- Steinburger Kreisverwaltung (2024). Jahresbericht Bücherbus. Verfügbar unter: https://www.kreis-steinburg.de