Die schleichende Krise: Verlust von Vielfalt und Abhängigkeit von Hybridsaatgut
Die moderne Landwirtschaft steht vor einer stillen, aber tiefgreifenden Krise. In den letzten 50 Jahren hat der Vormarsch industrieller Landwirtschaft und hochspezialisierter Hybridsaaten zur Verdrängung einer jahrtausendealten Tradition geführt: der Nutzung und Weitergabe von offen bestäubtem Saatgut. Offen bestäubte Samen sind Pflanzensorten, die sich durch natürliche Prozesse wie Wind, Insekten oder andere Tiere vermehren und dabei ihre genetischen Eigenschaften an die nächste Generation weitergeben. Im Gegensatz dazu sind Hybridsorten oft gezielt für einmaligen Ertrag gezüchtet und verlieren bei Wiederverwendung ihre spezifischen Eigenschaften.
Diese Entwicklung hat Konsequenzen. Über 75 % der genetischen Vielfalt landwirtschaftlicher Nutzpflanzen sind laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) seit Anfang des 20. Jahrhunderts verloren gegangen (FAO, 2019). Landwirte werden zunehmend von wenigen multinationalen Konzernen abhängig, die den globalen Saatgutmarkt kontrollieren. Hybridsaatgut und gentechnisch veränderte Sorten dominieren den Markt, während traditionelle, regionale Sorten aussterben. Diese Abhängigkeit und der Verlust der Vielfalt gefährden nicht nur die Ernährungssicherheit, sondern auch die Anpassungsfähigkeit an Umweltveränderungen wie den Klimawandel.
Hybridsaatgut mag kurzfristig hohe Erträge bieten, hat jedoch gravierende Nachteile: Es zwingt Landwirte, jedes Jahr neues Saatgut zu kaufen, da die Nachkommen der Hybridpflanzen oft minderwertig sind oder gar nicht keimen. Zudem werden sie häufig mit chemischen Düngemitteln und Pestiziden kultiviert, was ökologische und gesundheitliche Risiken mit sich bringt. In dieser Situation drängt sich eine wichtige Frage auf: Gibt es Alternativen? Die Antwort könnte in der Wiederentdeckung von offen bestäubten Samen liegen.
Offen bestäubte Samen: Ein Schlüssel zu Unabhängigkeit und Vielfalt
Offen bestäubte Samen, auch als „open-pollinated seeds“ bekannt, sind seit Jahrtausenden ein fester Bestandteil der Landwirtschaft. Diese Sorten werden von Generation zu Generation weitergegeben, wobei sie sich auf natürliche Weise an lokale Umweltbedingungen anpassen. Sie sind genetisch stabil, was bedeutet, dass das geerntete Saatgut dieselben Eigenschaften wie die ursprüngliche Pflanze hat. Das ermöglicht es Landwirten und Gärtnern, ihr eigenes Saatgut zu gewinnen und jedes Jahr wiederzuverwenden.
Doch offen bestäubte Sorten bieten mehr als nur Kosteneffizienz. Ihre genetische Vielfalt macht sie widerstandsfähiger gegen Schädlinge, Krankheiten und sich verändernde Klimabedingungen. Zudem tragen sie dazu bei, regionale Traditionen und kulinarische Vielfalt zu bewahren. In Zeiten globaler Unsicherheiten könnten diese Eigenschaften entscheidend sein.
Wie Initiativen die Saatgutvielfalt retten
Inmitten dieser Herausforderungen haben weltweit zahlreiche Initiativen und Projekte das Ziel, offen bestäubtes Saatgut zu fördern und zu verbreiten. Ein Paradebeispiel ist die deutsche Bingenheimer Saatgut AG, ein Unternehmen, das in den frühen 1980er Jahren gegründet wurde. Die Organisation entstand aus einer Gruppe von Bio-Landwirten und Gärtnern, die erkannten, dass viele traditionelle Sorten aus den Katalogen verschwanden. Heute kooperiert die Bingenheimer Saatgut AG mit über 100 landwirtschaftlichen Betrieben und fördert die biodynamische Züchtung.
Das Unternehmen verfolgt eine klare Mission: Offen bestäubtes, gentechnikfreies und regional angepasstes Saatgut für alle zugänglich zu machen. Die Gründer setzten von Anfang an auf gemeinschaftliches Arbeiten: Landwirte aus der Region stellen ihr Wissen zur Verfügung, um Samen zu entwickeln, die an spezifische klimatische und geologische Gegebenheiten angepasst sind. Das Unternehmen hat es sich zur Aufgabe gemacht, Landwirte und Gärtner mit hochwertigen, stabilen Sorten zu versorgen, die eine echte Alternative zu Hybriden darstellen.
In den USA hat die Open Source Seed Initiative (OSSI) ein ähnliches Ziel: Saatgut als Gemeingut zu erhalten. OSSI wurde 2012 von einer Gruppe unabhängiger Wissenschaftler und Züchter gegründet. Ihr Konzept ist inspiriert von der Open-Source-Bewegung in der Softwarebranche. Mit einer speziellen Lizenz stellen Züchter sicher, dass ihre Samen frei verwendet, geteilt und weiterentwickelt werden können, ohne dass sie unter Patentrechte fallen. Heute arbeiten mehr als 37 Züchter und Dutzende Partnerorganisationen weltweit mit OSSI zusammen, um diese Vision zu verwirklichen.
Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel ist das Dwarf Tomato Project. Dieses kollaborative Züchtungsprojekt begann 2005, als der amerikanische Tomatenexperte Craig LeHoullier und die australische Gärtnerin Patrina Nuske Small eine gemeinsame Idee verfolgten: Sie wollten robuste, kompakte Tomatenpflanzen mit exzellentem Geschmack entwickeln, die sich für den Anbau in kleinen Gärten eignen. Mit der Hilfe von Freiwilligen aus aller Welt wurden in wenigen Jahren über 90 neue offen bestäubte Tomatensorten gezüchtet. Viele davon sind heute über Saatgutkataloge erhältlich. Dieses Projekt zeigt, wie gemeinschaftliches Engagement und der Einsatz von Laienforschern zur Bereicherung der genetischen Vielfalt beitragen können.
Herausforderungen und Erfolge bei der Umsetzung
Der Erfolg solcher Projekte ist beeindruckend, doch sie stehen vor erheblichen Herausforderungen. Einerseits sind sie auf finanzielle Unterstützung und das Engagement von Freiwilligen angewiesen. Andererseits müssen sie gegen die übermächtige Präsenz globaler Saatgutkonzerne ankämpfen, die den Markt dominieren. Trotz dieser Hürden sind Fortschritte sichtbar: Immer mehr Landwirte und Gärtner erkennen die Vorteile offen bestäubter Sorten. In Regionen wie Indien und Afrika, wo Subsistenzlandwirtschaft eine wichtige Rolle spielt, wächst das Bewusstsein für die Bedeutung von Saatgutunabhängigkeit.
Eine interessante Anekdote verdeutlicht den Wert solcher Initiativen: Ein Landwirt aus Kenia berichtete, dass er durch die Nutzung offen bestäubter Maissorten seine Erträge um 30 % steigern konnte, da diese besser an lokale Bedingungen angepasst waren. Gleichzeitig sparte er jährlich hunderte Dollar, die er zuvor für Hybridsaatgut und Dünger ausgab. Solche Geschichten zeigen, wie entscheidend die Rückbesinnung auf traditionelle Methoden sein kann.
Die Zukunft sichern: Warum Vielfalt essenziell bleibt
Die Förderung offen bestäubter Sorten ist weit mehr als ein nostalgisches Projekt für alteingesessene Gärtner. Sie ist ein Schritt hin zu einer nachhaltigen, unabhängigen und resilienten Landwirtschaft. Offen bestäubte Samen bieten eine Alternative zu den Monokulturen und der Abhängigkeit, die die heutige Landwirtschaft prägen. Indem sie genetische Vielfalt bewahren, tragen sie dazu bei, die Herausforderungen des Klimawandels, neuer Pflanzenkrankheiten und sich verändernder Böden zu bewältigen.
In einer Welt, die zunehmend von globalen Krisen erschüttert wird, bietet die Wiederentdeckung und Förderung offen bestäubter Sorten nicht nur Hoffnung, sondern auch konkrete Lösungen. Ob durch die Arbeit von Organisationen wie der Bingenheimer Saatgut AG oder durch globale Bewegungen wie OSSI – der Kampf um die Saatgutvielfalt ist längst in vollem Gange.
Quellenangaben
- Bingenheimer Saatgut AG – Teil eines lebendigen Netzwerks: https://www.bingenheimersaatgut.de/en/info/en/about-us/about-us.html
- FAO: The State of the World’s Plant Genetic Resources for Food and Agriculture (2019): http://www.fao.org/3/i1500e/i1500e00.htm
- The Dwarf Tomato Project – Mother Earth Gardener: https://www.motherearthgardener.com/organic-gardening/dwarf-tomato-project-zm0z18wzhoe/
- Open Source Seed Initiative: https://en.wikipedia.org/wiki/Open_Source_Seed_Initiative