Ein Land der Kaiserschnitte: Das Problem
Brasilien gilt als eines der Länder mit den höchsten Kaiserschnittraten weltweit. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt der Anteil der Kaiserschnittgeburten dort bei rund 55 Prozent, wobei in privaten Kliniken bis zu 90 Prozent erreicht werden. Diese Zahl übersteigt die von der WHO empfohlene Quote von 10 bis 15 Prozent deutlich. Kaiserschnitte, obwohl medizinisch notwendig und lebensrettend in bestimmten Fällen, bringen auch Risiken mit sich – sowohl für die Mutter als auch für das Kind. Studien zeigen, dass unnötige Kaiserschnitte mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Komplikationen wie Infektionen, Blutverlust und langfristigen Gesundheitsproblemen einhergehen können.
Die Ursachen für diese erschreckend hohen Zahlen sind vielfältig. Zum einen sind finanzielle Anreize ein entscheidender Faktor: Kaiserschnitte sind lukrativer für Krankenhäuser, da sie schneller und planbarer sind. Zum anderen gibt es kulturelle und soziale Gründe. Viele Frauen in Brasilien bevorzugen einen Kaiserschnitt aus Angst vor den Schmerzen einer natürlichen Geburt oder aufgrund gesellschaftlicher Ideale, die einen „perfekten Zeitpunkt“ für die Geburt propagieren. Gleichzeitig mangelt es an ausreichender Aufklärung und Unterstützung für werdende Mütter, die sich eine natürliche Geburt wünschen.
In ländlichen Gebieten und einkommensschwachen Vierteln kommt ein weiteres Problem hinzu: der Zugang zu qualitativ hochwertiger medizinischer Versorgung. Öffentliche Krankenhäuser sind oft überfüllt, und die Betreuung während Schwangerschaft und Geburt lässt in puncto Menschlichkeit und Würde oft zu wünschen übrig.
Geburtshaus Casa Angela: Eine Vision für bessere Geburtshilfe
Vor diesem Hintergrund entstand 2009 die Geburtshaus Casa Angela, das erste offiziell lizenzierte Geburtshaus in Brasilien. Gegründet wurde es von der Associação Comunitária Monte Azul, einer gemeinnützigen Organisation, die seit den 1970er-Jahren in São Paulo tätig ist. Die Organisation wurde von Ute Craemer, einer deutschen Waldorfpädagogin, ins Leben gerufen und engagiert sich seit Jahrzehnten für soziale Entwicklung in den ärmsten Vierteln der Metropole.
Die Geburtshaus Casa Angela ist Teil dieser umfassenden Mission. Sie bietet Frauen und ihren Familien eine ganzheitliche Betreuung während der Schwangerschaft, Geburt und im ersten Lebensjahr des Kindes. Der Fokus liegt dabei auf natürlichen Geburten in einem sicheren, unterstützenden Umfeld. Das Geburtshaus beschäftigt ein multiprofessionelles Team aus Hebammen, Gynäkologen, Kinderärzten und Sozialarbeitern, die eng zusammenarbeiten, um eine individuelle und respektvolle Betreuung zu gewährleisten.
Die rechtliche Anerkennung als Geburtshaus war ein bedeutender Meilenstein. In einem Land, in dem Kaiserschnitte die Norm sind, musste das Geburtshaus Casa Angela nicht nur medizinische Standards erfüllen, sondern auch das Vertrauen der Behörden und der Gemeinschaft gewinnen. Heute ist sie ein Vorbild für ähnliche Initiativen in Brasilien.
Ein Ort des Vertrauens und der Gemeinschaft
Das Geburtshaus Casa Angela befindet sich in Jardim São Luís, einem sozial benachteiligten Viertel von São Paulo. Das Gebäude ist bewusst so gestaltet, dass es eine warme, einladende Atmosphäre bietet – weit entfernt vom sterilen Ambiente eines Krankenhauses. Helle Räume, natürliche Materialien und die Möglichkeit, die Geburt im Wasser zu erleben, tragen dazu bei, dass Frauen sich hier sicher und geborgen fühlen.
Das Geburtshaus bietet nicht nur medizinische Betreuung, sondern auch umfassende Bildungsangebote. In Workshops und Kursen lernen werdende Eltern, wie sie sich auf die Geburt vorbereiten und eine gesunde Bindung zu ihrem Kind aufbauen können. Themen wie Stillen, Säuglingspflege und Ernährung stehen ebenso auf dem Programm wie Yoga und Atemübungen. Darüber hinaus organisiert die Casa Angela Gemeinschaftsprojekte, die ökologische und soziale Themen aufgreifen, etwa Kurse zur Mülltrennung oder Gartenbauprojekte.
Erfolge und Herausforderungen
Seit seiner Gründung hat das Geburtshaus Casa Angela mehr als 2000 Geburten begleitet. Die Kaiserschnittrate liegt hier bei lediglich 15 Prozent – ein Beweis dafür, dass natürliche Geburten unter den richtigen Bedingungen möglich und sicher sind. Mütter berichten häufig von positiven Erfahrungen, die ihnen nicht nur Selbstvertrauen geben, sondern auch ihre Sicht auf Geburt grundlegend verändern.
Eine dieser Geschichten stammt von Maria, einer jungen Mutter, die ihr zweites Kind in der Casa Angela zur Welt brachte. Nach einer traumatischen Erfahrung mit einem unnötigen Kaiserschnitt bei ihrer ersten Geburt fand sie hier die Unterstützung, die sie brauchte, um ihr Kind natürlich zur Welt zu bringen. „Ich habe zum ersten Mal erlebt, wie schön und kraftvoll Geburt sein kann“, erzählt sie.
Trotz der Erfolge bleibt das Geburtshaus Casa Angela auf Unterstützung angewiesen. Die Finanzierung erfolgt hauptsächlich über Spenden und Fördergelder, was in wirtschaftlich unsicheren Zeiten eine Herausforderung darstellt. Außerdem ist es ein langwieriger Prozess, kulturelle Einstellungen und medizinische Praktiken zu verändern. Doch das Team der Casa Angela bleibt optimistisch und arbeitet daran, seine Arbeit auf weitere Regionen Brasiliens auszuweiten.
Ein Modell mit Strahlkraft
Das Geburtshaus Casa Angela zeigt, dass es möglich ist, eine Alternative zu den dominierenden Geburtshilfestrukturen in Brasilien zu schaffen. Sie beweist, dass natürliche Geburten nicht nur sicher, sondern auch bereichernd sein können – für Mutter, Kind und Familie. Ihr Erfolg hat andere Initiativen inspiriert und setzt einen wichtigen Impuls für die Reform des brasilianischen Gesundheitssystems.
Gleichzeitig steht die Casa Angela exemplarisch für die transformative Kraft von Gemeinschaftsprojekten. Sie verbindet medizinische Expertise mit menschlicher Wärme und zeigt, wie soziale und ökologische Aspekte in die Gesundheitsversorgung integriert werden können. Für Frauen wie Maria ist sie nicht nur ein Geburtshaus, sondern ein Ort, der ihnen Selbstvertrauen und Hoffnung schenkt.
Quellen
Associação Comunitária Monte Azul (2024) Casa Angela. Available at: https://monteazul.org.br/casa-angela/ (Accessed: 8 November 2024).
World Health Organization (2023) Caesarean sections are lifesaving, but countries are seeing overuse. Available at: https://www.who.int/news/item/26-04-2023-caesarean-sections (Accessed: 8 November 2024).
Deutsche Welle (2020) ‚Natural births: A growing trend in Brazil‘, Deutsche Welle, 15 March. Available at: https://www.dw.com/en/natural-births-a-growing-trend-in-brazil/a-52803795 (Accessed: 8 November 2024).
UNICEF Brazil (2022) ‚Improving maternal and child health in São Paulo‘, UNICEF Brazil. Available at: https://www.unicef.org/brazil/en/improving-maternal-and-child-health (Accessed: 8 November 2024).
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