Die Universität als Raum der Jugend? Nicht in Rostock. Hier zeigt ein einzigartiges Projekt, wie die Welt des Lernens mit der Lebenswelt älterer Menschen verschmelzen kann. Die Rostocker Senioren-Akademie beweist, dass Bildung im Alter weit mehr als ein Hobby sein kann – sie ist eine Brücke zur Teilhabe, zur geistigen Fitness und zu neuen Horizonten.
Das Problem: Bildungslücke im Alter und Isolation
In Deutschland sind über 20 Millionen Menschen älter als 65 Jahre (Statistisches Bundesamt, 2022). Die Lebenserwartung steigt, aber mit ihr wächst oft auch die Gefahr sozialer Isolation und intellektueller Unterforderung. Studien belegen, dass aktives Lernen im Alter nicht nur der geistigen Gesundheit dient, sondern auch vor Demenz schützen und die Lebensqualität steigern kann (Bamidis et al., 2014). Dennoch haben viele ältere Menschen das Gefühl, dass die Gesellschaft sie auf Freizeitaktivitäten wie Kaffeekränzchen und Bingo reduziert. Universitäten und Volkshochschulen richten sich primär an Jüngere oder Berufstätige, und die Angebote für Ältere wirken oft wenig anspruchsvoll oder einseitig.
Dabei ist das Interesse an Weiterbildung enorm: Eine Umfrage des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung (2021) ergab, dass fast 40 Prozent der Seniorinnen und Senioren gerne Kurse besuchen würden, wenn die Inhalte besser auf sie zugeschnitten wären. Besonders gefragt sind Themen wie Geschichte, Kunst, Philosophie und moderne Technik. Doch der Zugang zu diesen Angeboten ist oft erschwert – sei es durch fehlende Infrastruktur, hohe Kosten oder mangelnde Information. Diese Bildungslücke trifft nicht nur die Betroffenen selbst, sondern die gesamte Gesellschaft, die das Potenzial dieser Generation verschenkt.
Die Lösung: Die Rostocker Senioren-Akademie
Die Rostocker Senioren-Akademie wurde 2010 von einem Team aus Pädagogen, Wissenschaftlern und engagierten Ehrenamtlichen gegründet. Die Initiative entstand aus der Überzeugung, dass lebenslanges Lernen nicht nur ein Schlagwort sein darf, sondern aktiv gefördert werden muss. Unter der Leitung von Dr. Claudia Richter, einer erfahrenen Bildungsforscherin, und dem pensionierten Lehrer Klaus Brandt entwickelte die Akademie ein Konzept, das auf wissenschaftlicher Basis, intergenerativer Zusammenarbeit und den Wünschen der Zielgruppe basiert.
Die Akademie ist als gemeinnütziger Verein organisiert und hat derzeit über 500 Mitglieder. Sie bietet Vorlesungen, Seminare und Workshops an, die auf universitärem Niveau liegen, aber speziell auf die Bedürfnisse älterer Menschen zugeschnitten sind. Die Themen reichen von klassischer Literatur über Klimawandel bis hin zu Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz. Besonders beliebt sind Formate, die den Austausch mit jungen Studierenden fördern, wie gemeinsame Projekte oder Diskussionsrunden.
Die Finanzierung erfolgt durch Mitgliedsbeiträge, Fördergelder der Stadt Rostock und Spenden von lokalen Unternehmen. Dank dieser breiten Unterstützung können viele Veranstaltungen kostenfrei oder zu geringen Gebühren angeboten werden, was die Teilhabe auch für Menschen mit geringerem Einkommen ermöglicht.
Erfolgreiche Projekte und Geschichten aus der Praxis
Ein Highlight der Akademie ist die Seminarreihe „Geschichte erleben“, in der historische Themen mit Exkursionen und praktischen Übungen kombiniert werden. So wurde beispielsweise ein Kurs zur Hansezeit durch einen Besuch des Rostocker Stadthafens ergänzt, wo die Teilnehmer traditionelle Segeltechniken ausprobieren konnten. „Das war ein Erlebnis, das man nicht vergisst“, erzählt Erika Lehmann, 72, die seit drei Jahren regelmäßig die Akademie besucht. „Es hat mir gezeigt, wie viel ich noch lernen kann.“
Ein weiteres Vorzeigeprojekt ist der Kurs „Digitale Welten“, der Seniorinnen und Senioren den Umgang mit Smartphones, Tablets und sozialen Medien näherbringt. Als Dozenten fungieren hier häufig Studierende der Informatik, die ihr Wissen mit viel Geduld und Praxisnähe vermitteln. Ein Teilnehmer, der 80-jährige Wilhelm Koch, sagt dazu: „Ich wollte schon immer wissen, wie meine Enkel TikTok nutzen. Jetzt kann ich nicht nur zuschauen, sondern sogar mitmachen.“
Die Akademie legt großen Wert darauf, die Kurse wissenschaftlich zu evaluieren. Erste Ergebnisse zeigen, dass die Teilnehmer nicht nur zufriedener mit ihrem Alltag sind, sondern auch ihre kognitiven Fähigkeiten verbessern konnten. Besonders beeindruckend: Viele von ihnen engagieren sich nach den Kursen selbst als Ehrenamtliche oder Referenten, wodurch ein nachhaltiger Kreislauf des Lernens entsteht.
Ein Modell mit Strahlkraft
Die Rostocker Senioren-Akademie ist nicht nur ein lokaler Erfolg, sondern ein Modellprojekt mit Strahlkraft. Andere Städte wie Lübeck und Greifswald haben das Konzept bereits übernommen, und die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie sieht in der Akademie ein Beispiel dafür, wie gesellschaftliche Teilhabe im Alter gelingen kann. „Wir haben gezeigt, dass Lernen nie aufhört“, sagt Dr. Claudia Richter. „Das Alter ist keine Grenze, sondern eine Chance.“
Die Akademie hat nicht nur die Bildungslandschaft in Rostock verändert, sondern auch die öffentliche Wahrnehmung des Alters. Statt Defizite zu betonen, zeigt sie die Stärken und Möglichkeiten, die das Lernen im späteren Leben bietet. Es bleibt zu hoffen, dass noch mehr Kommunen den Mut finden, diesem Beispiel zu folgen – denn die Zukunft gehört allen Generationen.
Quellen
Bamidis, P. D., et al. (2014). “Active and Assisted Living Technologies for Aging Well and Cognitive Health.” Frontiers in Neuroscience.
Statistisches Bundesamt (2022). “Bevölkerungsstruktur in Deutschland.”
Deutsches Institut für Erwachsenenbildung (2021). “Bildung im Alter: Bedürfnisse und Potenziale.”
Rostocker Senioren-Akademie (2023). “Jahresbericht 2022/23.”