Ostdeutsche Plattenbausiedlungen sind nicht nur ein architektonisches Erbe, sondern auch eine enorme Herausforderung für die Städte von heute. Die ikonischen, großflächigen Bauten wurden ursprünglich in den 1960er- bis 1980er-Jahren in hoher Stückzahl errichtet, um die Wohnungsnot zu lindern und gleichzeitig die soziale Gleichheit zu fördern. Doch heute stellen sie Städteplaner und Bewohner vor große Probleme. In Zeiten von Energiekrise und Klimawandel ist es entscheidender denn je, diese Bauten zukunftsfähig zu machen. Das Pilotprojekt von Architekt Jurek Brüggen könnte hier zum Vorreiter einer Transformation werden, die auf ganz Ostdeutschland ausgeweitet werden könnte.
Die Herausforderung: Altlasten und Nachhaltigkeit in Plattenbauten
Die großen Wohnsiedlungen, auch bekannt als „Plattenbauten“, wurden damals in industriellem Maßstab gefertigt, mit Betonplatten, die auf einfachste Weise zusammengesetzt wurden. Schnell, effizient und kostengünstig – das waren die Hauptkriterien beim Bau. Doch diese Bauweise bringt heute massive ökologische und wirtschaftliche Probleme mit sich. Plattenbauten sind nicht energieeffizient, haben kaum Dämmung und verursachen hohe Heizkosten für ihre Bewohner. Zudem wirken sie oft monoton und trist, was in Zeiten steigender sozialer Isolation und Depression in Städten ein Problem darstellt.
Der Instandhaltungsaufwand ist enorm: Die Bauten leiden unter alter Technik, fehlenden Sanierungen und Schäden durch jahrzehntelangen Verschleiß. Moderne Anforderungen an Wohnkomfort und Energieeffizienz werden kaum erfüllt, was zur sozialen Abwanderung aus diesen Gebieten führt. Gemeinden stehen deshalb vor der Frage: Sanieren oder abreißen? Abreißen ist jedoch aus Umweltperspektive problematisch, da Abriss und Neubau erhebliche Mengen CO₂ verursachen. Eine nachhaltige Sanierung könnte den CO₂-Ausstoß reduzieren und gleichzeitig das Potenzial dieser bestehenden Strukturen nutzen.
Die Lösung: Ein Pilotprojekt als Blaupause für Ostdeutschland
Das Pilotprojekt von Jurek Brüggen, einem engagierten Architekten und Visionär für nachhaltiges Bauen, ist in Zusammenarbeit mit der Stendaler Wohnungsbaugesellschaft entstanden. Unter dem Motto „Sanieren statt Abreißen“ möchte Brüggen ein Modell schaffen, das wirtschaftliche und ökologische Vorteile vereint. Mit moderner Technik und einem ganzheitlichen Ansatz soll ein Plattenbau in Stendal so umgestaltet werden, dass er höchsten Energieeffizienzstandards entspricht und gleichzeitig die Lebensqualität der Bewohner erheblich verbessert.
Das Pilotprojekt wird in Form einer gemeinnützigen Genossenschaft geführt, um die Mitgestaltung und den Nutzen für die Bewohner langfristig zu sichern. Die Organisation ist bewusst klein und lokal gehalten: ein kleines, interdisziplinäres Team, das aus Architekten, Stadtplanern, Ingenieuren und Soziologen besteht, sorgt für eine maßgeschneiderte Umsetzung. Die Wahl dieser Rechtsform war entscheidend, um maximale Transparenz und Partizipation zu garantieren. Die Bewohner sind nicht nur Mieter, sondern auch Teilhaber, wodurch ein direkter Einfluss auf alle Aspekte der Sanierung und Bewirtschaftung möglich ist.
Das Gebäude in Stendal wurde bewusst gewählt, da es stellvertretend für Tausende anderer Plattenbauten in Ostdeutschland steht. Der Ansatz ist, die Außenfassade zu dämmen, moderne Lüftungssysteme zu installieren und Photovoltaikanlagen auf dem Dach zu integrieren. Gleichzeitig soll die Architektur aufgewertet werden, indem Gemeinschaftsflächen und grüne Innenhöfe geschaffen werden. So sollen auch soziale Treffpunkte entstehen, die den Zusammenhalt stärken und die Lebensqualität verbessern.
Erste Erfolge und faktenbasierte Erkenntnisse
Bereits in der Testphase konnten erste positive Ergebnisse erzielt werden. So berichteten Bewohner von sinkenden Heizkosten und einer merklich verbesserten Luftqualität durch das installierte Lüftungssystem. Laut einer internen Auswertung der Stendaler Wohnungsbaugesellschaft konnte der Energieverbrauch um bis zu 30 % gesenkt werden – ein enormer Fortschritt in der Energieeffizienz alter Gebäude (Stendaler Wohnungsbaugesellschaft, 2024).
Ein Vorbild für das Projekt ist das Sanierungsmodell in Wien, wo ähnliche Plattenbausiedlungen erfolgreich modernisiert wurden. Dortige Projekte zeigen, dass eine nachhaltige Sanierung nicht nur ökologische Vorteile bringt, sondern auch zur sozialen Revitalisierung beiträgt (Kovac et al., 2021). Die Erkenntnisse aus Wien bestätigen: Wenn sich Bewohner aktiv an der Umgestaltung beteiligen können, führt das zu einer größeren Akzeptanz und Zufriedenheit.
Ein weiterer inspirierender Fall stammt aus Malmö, Schweden. Die „Green Roof“-Initiative zeigt, dass das Hinzufügen von Grünflächen auf Dächern die Temperaturregulierung in Gebäuden positiv beeinflusst. Zudem verbessert sich die Luftqualität und das Wohlbefinden der Bewohner (Lundquist, 2022). Auch in Stendal wird über die Integration solcher grünen Dachflächen nachgedacht, um die städtische Wärmebelastung zu reduzieren.
Wenn das Pilotprojekt erfolgreich ist, könnte es die Grundlage für eine umfassende Transformation von Plattenbausiedlungen in ganz Ostdeutschland bieten. Die Stendaler Wohnungsbaugesellschaft zeigt sich optimistisch, dass sich die Ergebnisse und Erfahrungen auch auf andere Städte übertragen lassen. Jurek Brüggen und sein Team hoffen, dass ihr Modellprojekt als Vorlage dient und langfristig die Politik dazu anregt, in nachhaltige Sanierungen statt in Neubauten zu investieren.
Ein Modell für nachhaltiges Bauen
Das Projekt von Jurek Brüggen ist ein Meilenstein in der Frage, wie wir bestehende Bausubstanz nachhaltig nutzen können. Es zeigt, dass Ökologie und soziale Aspekte Hand in Hand gehen können, um einen echten Mehrwert für Bewohner und Städte zu schaffen. Gerade in Zeiten des Klimawandels wird es immer wichtiger, kreative und nachhaltige Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit zu finden. Der Blick nach Stendal zeigt: Es gibt Alternativen zum Abriss, die nicht nur ökologisch, sondern auch sozial und wirtschaftlich sinnvoll sind.
Quellen
- Stendaler Wohnungsbaugesellschaft (2024). Energieverbrauchsanalyse Pilotprojekt Plattenbau Stendal. [Online] Available at: https://www.stendalerwbga.de
- Kovac, M., Schuster, B., & Grahm, J. (2021). Sustainable Building Renovations in Urban Spaces: The Vienna Model. Vienna: Urban Studies Institute.
- Lundquist, L. (2022). The Green Roof Project in Malmö: Ecological and Social Benefits. Journal of Environmental Architecture, 15(4), pp. 32–40.
- Brüggen, J. (2024). Re-Imagining Urban Spaces: An Architect’s Guide to Sustainable Plattenbau Renovations. Stendal: Future Housing Initiatives