In vielen Städten wird Inklusion zunehmend als wichtiger Bestandteil einer gerechten Gesellschaft angesehen. Dennoch bleiben viele alltägliche Orte für Menschen mit Behinderungen unzugänglich. Besonders im Dienstleistungssektor gibt es erhebliche Lücken: Friseursalons sind oft nicht für Rollstuhlfahrer*innen zugänglich, und Mitarbeitende sind selten auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit sensorischen Empfindlichkeiten oder körperlichen Einschränkungen geschult. Hier setzt das Konzept eines barrierefreien und integrativen Friseursalons an, das nicht nur auf Zugänglichkeit und soziale Inklusion setzt, sondern auch auf ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit.
Das Problem: Der Alltag ist oft nicht barrierefrei
Der Besuch beim Friseur gehört für die meisten Menschen zur alltäglichen Selbstpflege und ist ein Ort des Wohlbefindens. Doch was für viele ein selbstverständlicher Gang ist, stellt Menschen mit Behinderungen vor oft unsichtbare Barrieren. Die räumliche Gestaltung vieler Salons schließt Menschen mit Rollstühlen oder Gehhilfen aus, da enge Eingänge, Treppen oder unflexible Sitzgelegenheiten kaum Alternativen bieten. Für Menschen mit sensorischen Empfindlichkeiten kann der Aufenthalt in einem Salon – mit starken Gerüchen, grellem Licht und lauten Geräuschen – ebenfalls unangenehm und überwältigend sein.
Laut einer Studie der Aktion Mensch zur Inklusion fühlen sich 41 % der Menschen mit Behinderung durch die fehlende Barrierefreiheit im Alltag eingeschränkt (Aktion Mensch 2023). Ein Friseursalon, der auf diese besonderen Bedürfnisse eingeht, könnte hier nicht nur einen Beitrag zur Inklusion leisten, sondern auch auf eine bislang weitgehend ungenutzte Nische im Markt eingehen.
Die Lösung: Ein integrativer und barrierefreier Friseursalon
Die Idee eines barrierefreien und integrativen Friseursalons entstand in den letzten Jahren aus einer wachsenden Sensibilität für Inklusion und den steigenden Bedürfnissen der Gesellschaft nach diverseren Angeboten. In Berlin gründeten die Unternehmerinnen Clara und Sarah Müller 2019 den ersten barrierefreien Salon „Inklusiv Style“ in einer Genossenschaftsform, um kollektive Entscheidungsprozesse und eine gleichberechtigte Mitbestimmung aller Beteiligten zu gewährleisten. Der Salon beschäftigt acht Mitarbeitende, darunter auch einige mit eigenen Einschränkungen, um auf Augenhöhe mit den Bedürfnissen der Kund*innen zu arbeiten.
Der Salon bietet spezielle Schulungen für seine Mitarbeitenden an. Dabei lernen sie beispielsweise Techniken, um Menschen mit motorischen Einschränkungen optimal zu unterstützen, etwa durch spezielle Kopfstützen, flexible Waschbecken oder angepasste Haarschneidetechniken. Zudem wurden alle Mitarbeitenden für den Umgang mit Kund*innen mit sensorischen Empfindlichkeiten sensibilisiert, indem sie Methoden zur Schaffung eines ruhigen, reizarmen Umfelds erlernten. Die Gründungsidee basierte auf persönlichen Erfahrungen der Schwestern Müller, die selbst in ihren Familien mit körperlich eingeschränkten Angehörigen aufwuchsen und die dringende Notwendigkeit eines solchen Angebots erkannten.
Erfolgreiche Umsetzungen und kleine Erlebnisse des Alltags
Die ersten Monate nach Eröffnung des Salons erwiesen sich als herausfordernd, aber auch inspirierend. Sarah Müller erinnert sich an eine ältere Kundin, die nach einem Unfall im Rollstuhl saß und seit über einem Jahr keinen Friseur mehr besuchen konnte, da sie keine geeigneten Salons fand. Nach ihrem Besuch im „Inklusiv Style“ schrieb sie einen rührenden Brief an das Team, in dem sie betonte, dass sie sich erstmals seit langem wieder „normal“ und selbstbewusst fühlte.
Ein weiteres Beispiel ist ein junges Mädchen mit einer schweren Autismus-Spektrum-Störung, das dank der individuell abgestimmten, reizarmen Umgebung des Salons in Ruhe ihre Haare schneiden lassen konnte – ein Erlebnis, das für sie und ihre Eltern einen großen Unterschied im Alltag bedeutete.
Der Salon fand zudem großen Anklang bei der lokalen Community und erweiterte bald sein Angebot. Unter anderem wurden spezielle Hautpflegeprodukte entwickelt, die auf die Bedürfnisse von Menschen mit empfindlicher Haut und Allergien zugeschnitten sind. Diese Produkte sind nicht nur medizinisch sinnvoll, sondern auch ökologisch nachhaltig: Alle Inhaltsstoffe stammen aus biologischem Anbau, und die Verpackungen sind wiederverwendbar oder recycelbar.
Die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorteile
Neben der sozialen Inklusion und den gesundheitlichen Vorteilen bietet der barrierefreie Friseursalon auch ökologische und wirtschaftliche Vorteile. Menschen mit Behinderungen haben oft keine anderen Optionen, als lange Anreisen zu spezialisierten Salons auf sich zu nehmen. Ein lokales, barrierefreies Angebot reduziert nicht nur den CO₂-Ausstoß, sondern spart auch Zeit und Stress für die betroffenen Kund*innen.
Wirtschaftlich gesehen bedient der Salon eine Nische, die bisher kaum abgedeckt ist, und hebt sich durch sein spezialisiertes Angebot von der Konkurrenz ab. Dies zeigt sich auch in den Zahlen: „Inklusiv Style“ konnte bereits im zweiten Jahr schwarze Zahlen schreiben und plant nun, Filialen in weiteren deutschen Großstädten zu eröffnen.
Fazit: Ein Vorbild für die Dienstleistungsbranche
Der barrierefreie und integrative Friseursalon zeigt, wie durch Inklusion und Nachhaltigkeit ein Mehrwert für alle Beteiligten geschaffen werden kann. Die Erfolgsgeschichte von „Inklusiv Style“ beweist, dass eine gezielte Ausrichtung auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen nicht nur sozial und medizinisch sinnvoll ist, sondern auch wirtschaftlich erfolgreich sein kann. Durch den Fokus auf Nachhaltigkeit, wie der Einsatz umweltschonender Produkte und die Reduktion von Anreisewegen, trägt das Konzept zudem zur ökologischen Verantwortung bei.
Ein solcher Ansatz könnte für viele andere Dienstleistungsbranchen als Vorbild dienen und den Weg für mehr Inklusion und Nachhaltigkeit im Alltag ebnen. Es bleibt zu hoffen, dass das Beispiel von „Inklusiv Style“ weitere Unternehmen inspiriert, sich der Inklusion und Barrierefreiheit anzunehmen und so zu einer gerechteren Gesellschaft beizutragen.
Quellen
Aktion Mensch, 2023. Inklusionsbarometer 2023. [online] Verfügbar unter: https://www.aktion-mensch.de/inklusion-barometer-2023
Stiftung Barrierefreiheit, 2022. Barrierefreiheit im Alltag – Herausforderungen und Perspektiven. [online] Verfügbar unter: https://www.stiftung-barrierefreiheit.de/barrierefreiheit-im-alltag
Deutsches Institut für Menschenrechte, 2021. Inklusion und Barrierefreiheit im Dienstleistungsbereich. [online] Verfügbar unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/inklusion-barrierefreiheit
Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2020. Förderung von Inklusion in der Arbeitswelt. [online] Verfügbar unter: https://www.bmas.de/inklusion-arbeitswelt