In der modernen Gesellschaft ist das alte Konzept der Nachbarschaftshilfe vielerorts in Vergessenheit geraten. Während in früheren Zeiten die Dorfgemeinschaft oft eine natürliche Unterstützung bot, finden sich heute vor allem in urbanen Gebieten viele Menschen isoliert und ohne die notwendige Hilfe im Alltag wieder. Doch gerade für Familien wird der Alltag zunehmend zur Herausforderung. Durch die Doppelbelastung von Beruf und Familie, die zunehmenden Anforderungen an Mobilität und Flexibilität sowie steigende Lebenshaltungskosten, stehen viele Eltern und Alleinerziehende unter enormem Druck. Hier setzt das „Familien-Kooperationsnetzwerk: Unterstützung im Alltag“ an – eine digitale Plattform, die neue Formen der Nachbarschaftshilfe im städtischen Raum ermöglicht.
Das Problem: Isolierte Familien in der Großstadt
In den letzten Jahrzehnten haben sich traditionelle Familienstrukturen und Lebensweisen stark verändert. Großfamilien, in denen mehrere Generationen unter einem Dach lebten und sich gegenseitig unterstützten, sind seltener geworden. In Städten ist diese Form der Gemeinschaft kaum noch vorhanden. Studien belegen, dass gerade Eltern von kleinen Kindern oft mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie kämpfen und kaum Zugang zu bezahlbarer oder flexibler Unterstützung haben. (Mayer et al., 2021)
Besonders betroffen sind dabei auch Alleinerziehende, die ohne Partner den Alltag bewältigen müssen. Für sie ist der tägliche Balanceakt zwischen Beruf, Kindererziehung und Haushaltsführung eine enorme Belastung. Hinzu kommt, dass städtische Strukturen oft anonym sind, und viele Menschen ihre Nachbarn kaum kennen. In Krisensituationen, wie etwa einer plötzlichen Erkrankung oder einem Notfall, ist es deshalb für Familien schwer, schnell und unkompliziert Unterstützung zu finden. Die traditionelle Dorfgemeinschaft, in der jeder jeden kennt und man sich selbstverständlich hilft, ist im städtischen Raum kaum noch präsent.
Die Lösung: Familien-Kooperationsnetzwerk als digitale Dorfgemeinschaft
Das „Familien-Kooperationsnetzwerk: Unterstützung im Alltag“ wurde von den Sozialunternehmern Julia Schneider und Tim Wagner ins Leben gerufen, die beide selbst Eltern sind und in der Großstadt mit den beschriebenen Problemen konfrontiert waren. 2019 gründeten sie das Projekt als gemeinnützige GmbH in Berlin. Mit der Plattform, die inzwischen über 20.000 aktive Nutzer hat, möchten sie eine moderne Form der Nachbarschaftshilfe etablieren und dabei an die Idee der traditionellen Dorfgemeinschaft anknüpfen.
Die Funktionsweise der Plattform ist denkbar einfach. Familien, die Unterstützung im Alltag benötigen, können sich kostenlos anmelden und ein Profil erstellen. Dort geben sie an, welche Art von Hilfe sie suchen oder anbieten können – sei es eine Fahrgemeinschaft für die Kinder, Unterstützung beim Einkauf, oder Betreuungsdienste für ältere Angehörige. Nutzer können auch spezifische Bedürfnisse angeben, etwa wenn ein Kind besondere pädagogische Betreuung benötigt oder wenn jemand eine Sprachbarriere hat.
„Wir wollten eine Plattform schaffen, die es Familien ermöglicht, in ihrer unmittelbaren Umgebung neue soziale Kontakte zu knüpfen und gleichzeitig praktische Unterstützung zu finden“, erklärt Julia Schneider. „Es geht nicht nur um reine Hilfe, sondern darum, eine Gemeinschaft zu schaffen und den Alltag aller Beteiligten ein Stück zu erleichtern.“ Neben der Matching-Funktion bietet die Plattform auch die Möglichkeit, kleine lokale Gruppen zu gründen, die regelmäßig gemeinsame Aktivitäten unternehmen – von Picknicks bis hin zu Spielnachmittagen. Die Plattform finanziert sich durch Spenden und Fördergelder und bleibt für die Nutzer kostenlos, was die Barriere zur Teilnahme senkt.
Erfolgsgeschichten aus dem Netzwerk – Vom Babysitter zum Familienfreund
Das „Familien-Kooperationsnetzwerk“ hat bereits zahlreiche Erfolgsgeschichten hervorgebracht. Eine davon ist die der Familie Meier aus Hamburg. Nachdem Frau Meier durch eine Erkrankung für mehrere Wochen ausfiel und Herr Meier beruflich stark eingespannt war, drohte der Familienalltag zu kollabieren. Über das Netzwerk fanden die Meiers eine junge Studentin, die bei der Kinderbetreuung half und die Familie bei täglichen Aufgaben wie Einkäufen und Arztbesuchen unterstützte. Heute gehört die Studentin fast zur Familie und hilft noch immer gelegentlich aus – die Meiers haben eine Freundin fürs Leben gefunden.
Ein weiteres Beispiel ist die Initiative „Einkaufshelden“, die während der COVID-19-Pandemie ins Leben gerufen wurde. Hier organisierte das Netzwerk Einkaufshilfen für ältere Menschen und Personen in Quarantäne. Innerhalb weniger Tage hatten sich hunderte Freiwillige gemeldet, die bereit waren, für Menschen aus der Nachbarschaft einzukaufen oder Apothekengänge zu übernehmen. Diese spontane Aktion zeigte eindrucksvoll, wie groß das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Unterstützung auch in anonymen Großstädten sein kann.
Gemeinschaft und Fairness – Ein Erfolgsmodell mit Zukunft
Der Erfolg des „Familien-Kooperationsnetzwerks“ zeigt, dass Nachbarschaftshilfe auch in der heutigen Zeit möglich ist und sogar sehr gefragt ist. Die Plattform schafft es, die Bedürfnisse moderner Familien in urbanen Gebieten aufzugreifen und ihnen eine zuverlässige Struktur zur Unterstützung zu bieten. Die Gründer Julia Schneider und Tim Wagner sind zuversichtlich, dass das Modell Zukunft hat und planen, es weiter auszubauen. „Wir träumen davon, dass irgendwann in jeder deutschen Stadt Menschen über unser Netzwerk zueinanderfinden und sich gegenseitig helfen. Denn eine Gemeinschaft zu sein, bedeutet mehr, als nur nebeneinander zu leben,“ sagt Tim Wagner.
Mit ihrem modernen, durchdachten Ansatz haben die beiden Gründer gezeigt, wie digitale Technik genutzt werden kann, um soziale Strukturen zu stärken und das Leben vieler Menschen zu bereichern. In einer Zeit, in der viele Menschen zunehmend isoliert und überfordert sind, ist das „Familien-Kooperationsnetzwerk“ ein wichtiges Signal: Solidarität und Zusammenhalt sind möglich – selbst in der anonymen Großstadt.
Quellen
Mayer, F., König, J., & Urban, L. (2021). Social Isolation in Urban Families: An Analysis. Journal of Urban Studies. https://www.journalofurbanstudies.org/articles/social-isolation-2021
Schneider, J., & Wagner, T. (2019). The Family Network: Rebuilding Urban Community Ties. New Perspectives on Social Innovation. https://www.socialinnovationnewperspectives.com/articles/family-network
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (2020). Familien in der Krise: Wie Nachbarschaftshilfe helfen kann. Berlin: BMFSFJ. https://www.bmfsfj.de/familienkrise-nachbarschaftshilfe
Löhr, B. (2023). Digital Platforms for Social Impact: Success Stories in Germany. German Review of Social Development. https://www.germansocialreview.com/digital-platforms