Gemeinsam Wissen schaffen: Wie Citizen Science die Welt verändert

Wie Berliner Luft und Bayerns Igel zu wissenschaftlichen Erkenntnissen führen

Wir leben in einer Welt, die von großen Herausforderungen geprägt ist. Der Klimawandel schreitet voran, die Artenvielfalt schrumpft, die Luft in unseren Städten wird immer schlechter, und der Plastikmüll verschmutzt selbst die entlegensten Winkel des Planeten. Die Wissenschaft allein kommt mit der Vielzahl dieser Probleme kaum hinterher. Was tun? Eine überraschend einfache, aber kraftvolle Lösung: die Menschen selbst aktiv in die Forschung einbinden. Citizen Science, auch Bürgerwissenschaft genannt, ist eine wachsende Bewegung, die zeigt, wie Bürger*innen mit Neugier, Beobachtungsgabe und technischem Know-how einen bedeutenden Beitrag zur Wissenschaft leisten können. Von der Überwachung der Luftqualität in Berlin bis hin zur Zählung von Igeln in bayerischen Gärten – Citizen Science-Projekte beweisen, dass Wissenschaft nicht länger nur eine Sache von Laborkitteln und Elfenbeintürmen ist, sondern jeden einbezieht, der mitmachen möchte.

Das Problem: Wissenslücken trotz Big Data

Wir leben in einer datengetriebenen Welt. Vom Smartphone bis zum Satelliten – Daten überfluten uns förmlich. Dennoch klaffen in vielen Forschungsbereichen große Wissenslücken, die selbst mit modernster Technologie nicht geschlossen werden können. Warum?

Ein Grund ist die Komplexität der Themen. Der Klimawandel ist ein globales Phänomen, das sich auf lokaler Ebene unterschiedlich auswirkt. Jedes Dorf, jede Stadt hat andere Herausforderungen, sei es die Veränderung der Artenvielfalt oder lokale Luftverschmutzung. Diese Detailfragen lassen sich nicht allein durch zentrale Institutionen beantworten. Hinzu kommt der Mangel an Ressourcen. Forschung ist teuer, und gerade in Bereichen wie Umweltmonitoring oder Biodiversität sind die finanziellen Mittel oft begrenzt. Studien, die flächendeckende Daten benötigen, wie die Erfassung von Insektenpopulationen, sind für Institute allein kaum zu stemmen.

Ein weiteres Hindernis sind geografische Barrieren. Viele Daten können nur vor Ort erhoben werden, sei es durch die Beobachtung von Vogelarten in einem Wald oder das Sammeln von Wasserproben aus abgelegenen Flüssen. Die Wissenschaft benötigt mehr „Augen und Hände“, als sie bereitstellen kann. Schließlich ist die Dringlichkeit der Probleme ein Faktor. Umweltkrisen eskalieren oft schneller, als klassische Forschungsprojekte reagieren können. Ohne umfassende Daten ist schnelles Handeln aber nahezu unmöglich.

Hier setzt Citizen Science an, indem sie die Schwarmintelligenz und Begeisterung der Menschen nutzt, um diese Lücken zu schließen.

Die Lösung: Was Citizen Science leisten kann

Die Idee, Bürgerinnen in die Wissenschaft einzubinden, ist älter, als man denkt. Bereits im 19. Jahrhundert unterstützten Hobby-Naturforscherinnen Wissenschaftler wie Charles Darwin, indem sie Beobachtungen von Pflanzen und Tieren dokumentierten. Mit dem Aufkommen von Digitalisierung und Smartphones hat sich Citizen Science jedoch in den letzten Jahren revolutionär verändert. Plattformen wie iNaturalist, Bürger schaffen Wissen oder Zooniverse verbinden heute Millionen von Menschen weltweit mit Forschungsteams.

Ein zentraler Unterschied zu früher: Citizen Science ist heute nicht mehr nur ein Randphänomen, sondern integraler Bestandteil vieler Forschungsprojekte. Die Bewegung hat gezeigt, dass engagierte Bürgerinnen genauso wertvolle Daten liefern können wie professionelle Wissenschaftlerinnen – wenn auch mit gewissen Einschränkungen.

Organisierte Projekte: Struktur und Akteure

Die meisten Citizen Science-Projekte sind eng mit wissenschaftlichen Institutionen verbunden, oft in Kooperation mit Umweltorganisationen oder lokalen Behörden. Ein Beispiel ist das Berliner Projekt Luftdaten selber messen, das von der Technischen Universität Berlin (TU) in Zusammenarbeit mit der Bürgerinitiative Sensor.Community entwickelt wurde. Ziel ist es, die Luftverschmutzung flächendeckend zu dokumentieren und so Politik und Öffentlichkeit für Probleme wie Feinstaub zu sensibilisieren. Ein weiteres Beispiel ist das bayerische Projekt Igel in Bayern, das vom Landesbund für Vogelschutz (LBV) geleitet wird. Dieses Projekt ruft Bürger*innen dazu auf, Beobachtungen von Igeln in ihrer Umgebung zu melden. Unterstützt durch Workshops und digitale Tools konnten hier innerhalb weniger Jahre wertvolle Daten zur Verbreitung und Bedrohungslage der Tiere gesammelt werden.

Typische Strukturen solcher Projekte umfassen gemeinnützige Organisationen, universitäre Forschungsgruppen oder lose Netzwerke. Die Größe reicht von kleinen lokalen Initiativen mit wenigen Dutzend Teilnehmenden bis hin zu internationalen Bewegungen mit Tausenden aktiven Mitgliedern. Technologie spielt eine zentrale Rolle, um Daten einfach und effizient zu sammeln und auszuwerten. Sensoren, Smartphone-Apps und Online-Plattformen sind hier die wichtigsten Werkzeuge.

Erfolgreiche Projekte: Beispiele aus der Praxis

Das Projekt Berliner Luftdaten verfolgt ein ehrgeiziges Ziel: Bürger*innen sollen selbst Messgeräte bauen und diese in ihrem Viertel installieren. Die kostengünstigen Sensoren messen Feinstaubwerte, die auf einer offenen Plattform aggregiert werden. So entsteht ein detailliertes Bild der Luftqualität in Berlin. Die Ergebnisse des Projekts haben bereits politische Debatten angestoßen, etwa über den Ausbau von Radwegen oder den Rückgang des motorisierten Verkehrs.

Ein weiteres Erfolgsprojekt ist Igel in Bayern. Seit 2018 rufen der LBV und Partner Bürger*innen dazu auf, Igel zu beobachten und ihre Funde zu melden. Binnen weniger Jahre wurden mehr als 50.000 Sichtungen erfasst. Eine überraschende Erkenntnis war, dass Igel vor allem in urbanen Gebieten bedroht sind, da natürliche Lebensräume wie Hecken und Wiesen verschwinden. Dank der Daten wird nun gezielt in Städten und Gemeinden auf mehr igelfreundliche Grünflächen hingewirkt.

Ein drittes Beispiel ist das bundesweite Projekt Stadtgrün und Klima, das die Auswirkungen des Klimawandels auf städtische Bäume untersucht. Bürgerinnen kartieren Baumarten, dokumentieren Schäden und vergleichen Veränderungen über mehrere Jahre. Die gesammelten Daten helfen Städten, widerstandsfähige Baumarten zu identifizieren, die besser mit steigenden Temperaturen zurechtkommen. Das EU-Projekt Plastic Pirates mobilisiert seit 2016 Jugendliche in ganz Europa, um Plastikmüll in Flüssen zu kartieren. Die Teilnehmerinnen sammeln nicht nur Müll, sondern dokumentieren auch dessen Art und Herkunft. Die Ergebnisse fließen direkt in politische Maßnahmen zur Plastikreduktion ein, wie etwa strengere Regulierungen für Einwegplastik.

Warum Citizen Science mehr ist als Datensammlung

Citizen Science liefert nicht nur Daten, sondern auch neue Perspektiven. Die Beteiligung von Laien ermöglicht es, wissenschaftliche Fragestellungen aus einem breiteren Blickwinkel zu betrachten. Ein Beispiel ist das Projekt Berliner Luftdaten, bei dem Bürger*innen durch ihre Beobachtungen auf Feinstaubquellen aufmerksam machten, die zuvor übersehen wurden – etwa bestimmte Arten von Heizungen in Altbauten.

Darüber hinaus fördert Citizen Science ein grundlegendes Verständnis für wissenschaftliche Prozesse und Umweltfragen. Teilnehmer*innen berichten häufig, dass sie durch ihre Arbeit eine neue Wertschätzung für die Natur entwickelt haben. Eine Teilnehmerin des Projekts Igel in Bayern fasst es treffend zusammen: „Ich hatte nie gedacht, dass meine kleine Beobachtung eine Rolle spielt. Aber sie ist Teil eines großen Puzzles.“

Herausforderungen und Zukunftsperspektiven

Wie bei jedem innovativen Ansatz gibt es auch bei Citizen Science Herausforderungen. Ein Problem ist die Datenqualität. Laien sind keine Expertinnen, und die erhobenen Daten müssen oft überprüft werden. Auch die langfristige Finanzierung vieler Projekte ist eine Hürde, da sie häufig von Fördergeldern abhängig sind und auf wackligen Beinen stehen. Zudem ist es nicht immer leicht, Bürgerinnen langfristig bei der Stange zu halten.

Die Vorteile überwiegen jedoch. Mit der zunehmenden Verbreitung von Sensoren, KI und digitalen Plattformen wird Citizen Science in den kommenden Jahren noch relevanter. Es ist denkbar, dass Bürgerwissenschaft bald eine Säule der Forschung wird – gleichwertig mit professioneller Wissenschaft.

Fazit: Eine Bewegung, die verändert

Citizen Science zeigt, dass jede*r von uns ein Teil der Lösung sein kann. Ob Igel zählen, Bäume kartieren oder Plastik in Flüssen dokumentieren – gemeinsam können wir wissenschaftliche Herausforderungen bewältigen und einen positiven Wandel bewirken. Es ist eine Bewegung, die Wissenschaft demokratisiert und uns allen die Möglichkeit gibt, die Zukunft aktiv mitzugestalten.

Quellenangaben

Luftdaten.info (2024) Luftdaten selber messen. Verfügbar unter: https://luftdaten.info
Landesbund für Vogelschutz (2024) Igel in Bayern. Verfügbar unter: https://www.lbv.de
Plastic Pirates (2024) Plastikmüll kartieren. Verfügbar unter: https://www.plastic-pirates.eu
Bürger schaffen Wissen (2024) Projekte und Plattformen. Verfügbar unter: https://www.buergerschaffenwissen.de

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